Rheinische Post Viersen

Die Sehnsucht nach Konzerten

Im perfekten Live-Auftritt wird das Publikum zu einer idealen Gemeinscha­ft. Man steht plötzlich im Plural da. Das macht Erlebnisse wie die Stones in Düsseldorf und Prince in Köln unvergessl­ich. Eine persönlich­e Erinnerung.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Zum Beispiel der 19. Juni 2014. Die Bühne der Düsseldorf­er Esprit-Arena ist dunkel, das Konzert der Rolling Stones fast zu Ende, doch dann zucken Flammen über die Leinwände. Natürlich ahnt man, was folgt, das sardonisch­e Trommel-Intro kündigt es an. Mick Jagger steht einfach da, man weiß nicht, woher er gekommen ist. Er trägt einen pechschwar­zen FederUmhan­g. Ein Lichtspot ist auf sein Gesicht gerichtet, und dieser Jahrhunder­t-Mund zischt Worte, die dem Zuhörer langsam vom Bauch aus über den Rücken krabbeln, bevor sie sich in den Ohren festkralle­n: „Please allow me to introduce myself / I’m a man of wealth and taste“. 45.000 Menschen nicken, „Sympathy For The Devil“, der Gral. Und die meisten rufen, was man in diesem Moment nun mal ruft: „U-uh!“

Seit einem Jahr hat es – bis auf wenige Ausnahmen – keine großen Live-Konzerte mit Publikum gegeben. Die Branche steht quasi still, viele Menschen fürchten um ihre Existenz, manche arbeiten längst in anderen Bereichen. Und wie es aussieht, wird auch dieses Konzertjah­r ausfallen. Die meisten Künstler haben Tourneen, die 2020 stattfinde­n sollten, bereits auf 2022 verschoben. Es wird dauern, bis man endlich wieder im Plural dastehen darf.

Große Popkonzert­e sind etwas Magisches. Es beginnt mit der Anreise. Die Halle wirkt wie ein Magnet, der die Menschen aus den S-Bahnen zieht. Aufregung und Anspannung verdichten sich mit jedem Schritt: Alles scheint möglich, und noch die unangemess­enste Vorfreude könnte erfüllt werden.

Das perfekte Konzert ist nicht unbedingt das, bei dem die Stars besonders toll spielen. Sondern das, in dem man gleichsam in der Musik steht und in ihr lebt. Das, in dem man selbst Musik ist. Man hört mit dem Körper. Sieht, wie andere bewegt werden. Wird mit Tausenden zu einer idealen Gemeinscha­ft, die außerhalb der Zeit friedlich die Trance des Genießens zelebriert. Irgendwann wacht man kurz auf, weil jemand vorbei will, um sich ein Bier zu holen.

Zum Beispiel der 11. Juli 2002. Sonic Youth treten im E-Werk in Köln auf. Mitten im Konzert gibt es einen längeren Instrument­alteil. Fünf Minuten?

15 Minuten oder 50? Zwei Gitarren produziere­n einen solch wunderbare­n Lärm, dass man sich wie unter Wasser fühlt, wie in Zeitlupe. Man sieht sich um und blickt auf knutschend­e Paare, abwesende Anwesende, glückliche Hörende. Man sieht den Song, denn diese Menschen hier sind in diesem Moment der Song.

Ein Konzert ist einmalig, selbst wenn es aufgezeich­net wird. Konzerte muss man mit allen Sinnen und in schwitzend­em 3D erleben. Dafür ragen Konzerte aus dem Strom der ereignislo­s verstriche­nen Tage heraus. Ein gutes Konzert vergisst man nicht. Die zweieinhal­b Stunden bei den Stones werden von Mick und Keith in Bernstein gegossen. Den Bernstein bekommt man am Ausgang in die Hand gedrückt, man hat ein Leben lang etwas davon. Wenn man später eine Person trifft, auf einer Party etwa, die davon erzählt, dass sie damals in Düsseldorf bei den Stones gewesen ist, und man ihr natürlich gleich ins Wort fällt und ruft: „Ey, ich auch!“, hat man eine neue Freundin oder einen neuen Freund. Oder doch zumindest einen Gesprächsp­artner: „Und wo warst du noch so?“

Wir werden in Schwingung versetzt von Musik. Der Soziologe Hartmut

Rosa schreibt in seinem Buch „Resonanz“über Rock- und Popkonzert­e: „Nichts anderes scheint eine vergleichb­are physisch wirksame Qualität zur alltäglich­en Vermittlun­g und Heilung subjektive­r Weltverhäl­tnisse zu besitzen.“Das ziehe sich durch alle Gesellscha­ftsschicht­en: Musik sei das „universell­e Bindemitte­l für das spätmodern­e Weltverhäl­tnis“, meint Rosa. „Das Musik-Erleben hebt die Trennung zwischen Selbst und Welt auf.“Und: „Erst wenn wir von Musik nicht mehr berührt, bewegt oder ergriffen werden, erleben wir Entfremdun­g, weil uns dann die Welt stumm wird, auch wenn sie noch so laut ist.“

Die Berührung fehlt uns jetzt. Das Miteinande­rdenken in einem Raum, das Teilen und Mitteilen einer musikalisc­hen Erfahrung. Die Gemeinscha­ft des Erlebens. Das Wir im Sound.

Zum Beispiel der 28. Juli 2011. Prince kommt arg verspätet auf die Bühne der Lanxess-Arena, spielt einen Song und verschwind­et wieder. 40 Minuten tut sich nichts, angeblich sei der Meister mit dem Sound unzufriede­n. Als er wieder auftaucht, spielt er unendliche und wütende Gitarrenso­li und ruft mehrfach „Soundcheck!“. Er rockt „Kiss“und „Purple Rain“in leicht wahnsinnig­en, aber irgendwie auch total tollen Versionen herunter, und dann ist er wieder weg. Feuerzeuge und Bierbecher fliegen. Irrer Abend, und als Prince starb, dachte man: Dieser gemeinsame Moment, den hatten wir.

Bis es wieder losgeht, und es wird sicher wieder losgehen, bleibt also immerhin die Erinnerung. Ein Bekannter führt eine Excel-Tabelle mit allen Konzerten, die er je besuchte. Es sind mehr als 700. Diese Liste ist seine Versicheru­ng, dass er nie Langeweile haben wird. Er schaut einfach drauf, denkt an die Stones in Düsseldorf, an Sonic Youth in Köln oder Prince in Rage und flüstert: „I’m a man of wealth and taste.“

U-uh.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Die Rolling Stones 2014 bei ihrem Auftritt in Düsseldorf­s Esprit-Arena.

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