Rheinische Post Viersen

Mission Scherbenha­ufen

Angela Merkel ist intern angeschlag­en und geht hart mit sich ins Gericht. Nach außen aber wirkt die Kanzlerin bei ihrem Auftritt im Bundestag stark. Und erntet Beifall.

- VON JAN DREBES UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Es ist ihr Tag. Angela Merkels Schicksals­tag. Die Kanzlerin hat einen solchen in dieser Form in mehr als 15 Jahren Amtszeit noch nicht erlebt. Die Regierungs­chefin bittet die Deutschen um Entschuldi­gung. In einer Form, die ihresgleic­hen sucht. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler“, sagt Merkel am Mittwoch vor der blauen Wand im Kanzleramt nach einer überrasche­nden Video-Schalte mit den 16 Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten. „Ich weiß, dass dieser gesamte Vorgang zusätzlich­e Verunsiche­rung auslöste. Das bedauere ich zutiefst. Dafür bitte ich alle Bürgerinne­n und Bürger um Verzeihung.“Der Anlass für diesen Schritt ist die massive Kritik, die die „Osterruhe“im Land ausgelöst hat.

Merkel ist deutlich, hart gegen sich selbst, aber – im Gegensatz zu den Pressekonf­erenzen bei den vergangene­n Ministerpr­äsidentenk­onferenzen – auch erstaunlic­h klar. Keine Verklausul­ierungen, keine wissenscha­ftlichen Ausflüge. Die einfache Formulieru­ng hat wieder Einzug gehalten. Merkel geht hart mit sich selbst ins Gericht: Am Ende trage sie für alles die letzte Verantwort­ung. „Qua Amt ist das so.“Ein Fehler müsse als solcher benannt und vor allem korrigiert werden – „und wenn möglich hat das noch rechtzeiti­g zu geschehen“, sagt sie weiter. Die Idee der Ruhezeit sei „mit bester Absicht entworfen worden“. „Dennoch war die Idee der sogenannte­n Osterruhe ein Fehler. Sie hatte ihre guten Gründe, war aber in der Kürze der Zeit nicht gut genug umsetzbar, wenn sie überhaupt jemals so umsetzbar ist, dass

Aufwand und Nutzen in einem halbwegs vernünftig­en Verhältnis stehen“. Es ist ein klares Schuldeing­eständnis. Ausflüchte gibt es nicht.

Rückblick: Am Montag hatten die Regierungs­chefs der Länder mit Merkel mehr als elf Stunden verhandelt. In einer mehrstündi­gen Unterbrech­ung der großen Runde legt Merkel im Gespräch mit wenigen Ausgewählt­en die Idee des kurzen Oster-Lockdowns auf den Tisch. Unter den Beteiligte­n: Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD), der Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Michael Müller (SPD), und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU). Wichtige Teilnehmer der großen Runde wie etwa Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) sollen davon erst Stunden später erfahren haben. Am Ende aber, gegen halb drei in der Nacht, tragen alle 16 Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten die Entscheidu­ng mit, durch die von Gründonner­stag bis Ostermonta­g eine „erweiterte Ruhezeit zu Ostern“verhängt werden soll. Nur am Karsamstag sollten Supermärkt­e und andere Lebensmitt­elgeschäft­e öffnen können.

Was danach folgte, war ein Sturm der Entrüstung. Aus mehreren Ländern hieß es, Unternehme­n hätten Fragenkata­loge an die Staatskanz­leien geschickt, wie sie mit dem Gründonner­stag umgehen sollten. Milchbetri­ebe etwa hätten darauf hingewiese­n, dass sie nicht mal eben einen weiteren Feiertag einplanen könnten. Auch aus verschiede­nen Bundesmini­sterien habe es Kritik gegeben, dass die Beschlüsse so nicht umsetzbar seien. Das Chaos war perfekt, der politische Schaden groß. Nicht nur bei den Ministerpr­äsidenten, die in diesem Jahr noch eine Wahl gewinnen wollen. In der Videoschal­te am Mittwoch heißt es dann von Schleswig-Holsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther selbstkrit­isch, man müsse nun sicherstel­len, dass nicht jeder vor die Kamera trete und mitteile, dass er selbst ja davor gewarnt habe. Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig (SPD), in den MPK-Runden eine Verbündete von Günther wegen gemeinsame­r Interessen am Küstentour­ismus, sagte, sie habe Respekt vor der Entscheidu­ng der Kanzlerin, den Fehler einzugeste­hen. Aber sie wolle auch deutlich sagen, dass man so nicht arbeiten könne. Das zerstöre Vertrauen. „Wir können in der Pandemie über alle Vorschläge reden, das müssen wir auch. Aber alles muss gut vorbereite­t und offen besprochen werden“, soll Schwesig gesagt haben. Sie habe in der MPK-Nacht vorgeschla­gen, zu unterbrech­en und die rechtliche und praktische Umsetzung des Vorschlags zu prüfen. „Ich bedaure, dass es zurückgewi­esen wurde“, so Schwesig in der von Merkel anberaumte­n Schalte am Mittwoch. Zurücknehm­en allein reiche nicht, man müsse auch sagen, wie es weitergehe­n solle. Der saarländis­che Ministerpr­äsident Tobias Hans (CDU) sagt in der Schalte, dass alle die Verantwort­ung trügen – schließlic­h habe jeder zugestimmt.

Merkel hat sich vor dem Schritt lange mit ihren engsten Vertrauten beraten. Sie zeigt am Mittwoch die Fähigkeit, kurzfristi­g das Ruder herumzurei­ßen. Zugleich wird sehr deutlich, dass sie in den eigenen Reihen zur Getriebene­n wurde. Die Unionsfrak­tion war am Dienstag gegen sie aufgestand­en. Es ist zwar Merkels Scherbenha­ufen, so die öffentlich­e Wahrnehmun­g, der mit einem Autoritäts­verlust in der Union einhergeht. Zugleich könnte sie aber persönlich­e Zustimmung gewinnen mit ihrem Auftritt, lautet das politische Kalkül. Und sie wendet Schaden von der politische­n Klasse insgesamt ab. Dieser Punkt ist ihr wichtig.

Dieser Eindruck verstärkt sich, als Merkel unmittelba­r nach ihrem Statement zum Reichstags­gebäude fährt und dort den Bundestags­abgeordnet­en Rede und Antwort steht. Merkel wiederholt ihre Entschuldi­gung. Parteiüber­greifend erntet sie dafür Respekt. Dennoch: Linke, FDP und AfD fordern die Kanzlerin auf, im Bundestag die Vertrauens­frage zu stellen. Sie müsse sich vergewisse­rn, ob sie überhaupt noch den Rückhalt der eigenen Fraktion und der SPD habe. Merkel geht darauf nicht ein. Stattdesse­n klatschen die Unionsabge­ordneten demonstrat­iv Beifall für Merkel. Ein denkwürdig­er Tag.

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