Rheinische Post Viersen

Der zentrale Fehler der Deutschen

Vier Auslandsko­rresponden­ten schauen aus einem anderen Winkel auf die hiesigen Entscheidu­ngen. Sie erklären, wie die Lage anderswo eingeschät­zt wird und ob es dort wirklich besser läuft.

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Meine Familie und ich leben in Deutschlan­d, und im vergangene­n Jahr war ich sehr froh darüber. Während die Zahl der Corona-Toten in Großbritan­nien in die Höhe schnellte und Boris Johnsons Regierung in Panik erstarrt schien, hielt ich Deutschlan­d für den sichereren Ort. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist das nicht mehr so eindeutig.

Großbritan­nien hat mehr als die Hälfte seiner erwachsene­n Bevölkerun­g geimpft, die Deutschen haben bislang nur neun Prozent geschafft. Eine unglücklic­he Figur macht die Regierung von Angela Merkel – als wären die Rollen vertauscht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich so simpel ist.

Corona hat gezeigt, wie unterschie­dlich Deutsche und Briten ihre Heimatländ­er wahrnehmen. Die Briten haben die unglücklic­he Tendenz, alles wie ein Fußballspi­el zu sehen: Selbst in einer globalen Pandemie möchten sie wissen, wer gewinnt. Die Deutschen dagegen richten ihre Kritik eher nach innen, auf sich selbst. Deutschlan­ds Erfolge in den vergangene­n zwölf Monaten sind vergessen, ebenso wie die Tatsache, dass die Infektions­zahlen bis heute niedriger sind als in den meisten anderen Ländern Europas. Deutschlan­ds Ansatz ist der erwachsene­re von beiden, aber er kann zu unnötigem Pessimismu­s führen.

Aktuell ist Deutschlan­d immer noch der angenehmer­e Ort zum Leben. Der Lockdown war hier nie so drakonisch wie auf der Insel, wo Menschen wegen einer Schneeball­schlacht festgenomm­en wurden und die Polizei sogar einen See schwarz einfärbte, um Spaziergän­ger abzuschrec­ken. Deutschlan­d hat niemals das Recht seiner Bürger angetastet, spazieren zu gehen oder frische Luft zu schnappen. Großbritan­nien schon. Und während Deutschlan­d die Frage diskutiert, ob Urlaubsrüc­kkehrer aus Mallorca getestet werden sollten, hat London seinen Bürgern verboten, in Urlaub zu fahren. Aber im Sommer wird das anders aussehen, wenn Deutschlan­d sein Impfprogra­mm nicht rapide beschleuni­gt. Dann wird Großbritan­nien wieder öffnen, seine Bürger werden in Europa herumreise­n.

In dieser Pandemie haben die Briten nur eine einzige Sache richtig gemacht, fast alles andere falsch. Den Deutschen dagegen unterlief ein einziger Fehler, während fast alles andere richtig gemacht wurde. Aber bei dieser einen Sache handelt es sich um das nationale Impfprogra­mm – und das könnte am Ende der einzige Aspekt sein, der wirklich zählt.

Schuld daran ist zum Teil die deutsche Aversion gegenüber Risiken. Deutsche schließen mehr Versicheru­ngspolicen ab als jeder andere Mensch, dem ich bisher begegnet bin. Lebenslang gehen sie grundsätzl­ich davon aus, dass Dinge schiefgehe­n. Das hat sich zu Beginn der Pandemie ausgezahlt: Das Land besitzt mehr Intensivbe­tten als jede andere Nation in Europa.

Boris Johnson dagegen ist ein Hasardeur. Er spekuliert­e, als er den Lockdown in Großbritan­nien hinauszöge­rte, und diese Wette ging auf schrecklic­he Weise verloren. Bei den Impfstoffe­n spekuliert­e er erneut, und diesmal ging seine Rechnung auf. Großbritan­nien ließ das Astrazenec­a-Vakzin für Menschen über 65 Jahren zu – obwohl es keine Daten gab, die diesen Schritt rechtferti­gten. Großbritan­nien zögerte den Zeitpunkt der Zweitimpfu­ng hinaus – entgegen der wissenscha­ftlichen Empfehlung. Beide Schritte waren riskant. Beide Schritte hätten schiefgehe­n können. Die Briten hatten Glück.

Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt. In einem Akt der Solidaritä­t vertraute Angela Merkel die Impfstoffb­eschaffung der EU an. „Brexit Britain“aber war entschloss­en, dieses Thema alleine anzugehen. Wie diese Geschichte am Ende ausgeht, ist noch nicht beschlosse­n. In der EU und auch in Indien geht es jetzt um Exportverb­ote für Impfstoffe – das ist ein gefährlich­er Kurs. Es wurden schon Kriege für weniger geführt. Stellen Sie sich vor, wie viel schlimmer die Lage wäre, wenn jeder EU-Staat auf eigene Rechnung gehandelt hätte.

Wohin der Pfad des Nationalis­mus führen kann, weiß kein Volk besser als die Deutschen. Möglich, dass Angela Merkel mit ihrem Vorgehen am Ende richtig liegt.

Der Autor ist aktuell Berlin-Korrespond­ent für die britische Tageszeitu­ng „Daily Telegraph“.

Seit mehr als 30 Jahren lebe ich Europa. Und das sehr gerne – wegen der Vielfalt, der Lebensqual­ität und der Kreativitä­t. Die Deutschen sind gut informiert, politisch interessie­rt, und ich sehe bei ihnen den ständigen Wunsch, aus den dunklen Kapiteln der Geschichte zu lernen. Aber wenn ich mir die miserable Erfolgsbil­anz Deutschlan­ds und der EU bei der Bekämpfung von Covid-19 ansehe und vor allem ihre klägliche Unfähigkei­t, die Bürger schnellstm­öglich gegen die Pandemie zu impfen, dämpft das meine Begeisteru­ng über Europa. Irgendetwa­s läuft hier schief.

In den USA sind inzwischen 125 Millionen Impfdosen gegen das Coronaviru­s verabreich­t worden, oder 38 je 100 Einwohner. In Deutschlan­d sind es bloß zehn Millionen, oder 13 je 100 Einwohner. Durchgeimp­ft werden die Amerikaner in etwa zwei Monaten sein; in Deutschlan­d dauert es noch sechs Monate. Wie viele Menschen in Deutschlan­d werden sich bis dahin aufgrund der stümperhaf­ten Politik und der kurzsichti­gen Beschaffun­gsprozesse anstecken und unnötig sterben?

Die Impfgeschi­chte illustrier­t einiges über die Schattense­iten Deutschlan­ds und der EU – zu viel Bürokratie, lähmende Dienstvors­chriften und grotesk übertriebe­ner Datenschut­z. Aber sie zeigt auch einiges über die besseren Seiten Amerikas: Führung, Forschung und die unzähligen Vorteile einer wirklich freien Marktwirts­chaft.

Ohne Frage haben die Vereinigte­n Staaten im vergangene­n Jahr viel zu viele Fehler im Kampf gegen das Coronaviru­s gemacht. Aber wir sollten alle froh sein und anerkennen, dass die sonst so verhöhnte Trump-Regierung vor einem Jahr Führungsst­ärke zeigte, indem sie zehn Milliarden Dollar für die „Operation Warp Speed“bereitstel­lte – eine öffentlich-private Partnersch­aft, um die Entwicklun­g, Herstellun­g und den Vertrieb von Covid-19-Impfstoffe­n zu beschleuni­gen.

Man stelle sich nur vor, die Welt hätte darauf warten müssen, dass Deutschlan­d oder die EU die Führung bei der Entwicklun­g eines Gegenmitte­ls übernimmt. Wahrschein­lich hätte es unter den 27 EU-Mitglieder­n endlose Debatten über die Beschaffun­g, die Haftung, den Preis und Prioritäte­nlisten gegeben. Deutsche Gründlichk­eit ist normalerwe­ise eine Tugend, aber in der Pandemie tödlich. Was bringt es, nach fünf Monaten einen besseren Preis für die Biontech/Pfizer-Impfdosen ausgehande­lt zu haben, wenn in der Zwischenze­it viele Leute krank werden oder sogar sterben?

Die 101-jährige Edith Kwoizalla wurde am 26. Dezember als erster Mensch in Deutschlan­d geimpft – eine gute Nachricht, zwei Wochen nachdem es in den USA losgegange­n war. Allerdings gab es in Deutschlan­d einen Tadel vom Gesundheit­sministeri­um, weil der Arzt sie und 30 andere Bewohner und Mitarbeite­r eines Seniorenhe­ims in Sachsen-Anhalt einen Tag vor dem offiziell geplanten Start am 27. Dezember geimpft hatte. Eigentlich unfassbar.

Ist es eine Überraschu­ng, dass der in Deutschlan­d entwickelt­e Impfstoff von Biontech/Pfizer seine Wirkung bislang in dreimal so vielen amerikanis­chen Körpern entfalten konnte wie in deutschen? Die Amerikaner hatten im Juli 600 Millionen Dosen bestellt, noch bevor die Ergebnisse der klinischen Tests bekannt waren. Die EU und Deutschlan­d brauchten bis November, um ihre erste Bestellung aufzugeben, und dann für nur 300 Millionen Dosen.

Freunde in den Vereinigte­n Staaten erzählen mir, wie sie ihre Impfungen in einer Apotheke bekamen, ohne Bürokratie oder Komplikati­onen, indem sie sich in Warteliste­n für nicht verbraucht­e Dosen eintrugen. Andere berichten, wie sie ihre Spritze in Drive-in-Impfzentre­n bekamen, von denen einige rund um die Uhr geöffnet sind.

In Deutschlan­d hingegen höre ich deprimiere­nde Geschichte­n. Über unbenutzte Impfdosen, die am Ende des Tages entsorgt werden. Über Senioren, die ihre Impfungen nicht bekommen oder verpassen, weil sie sich nicht online anmelden konnten oder keine E-Mail-Adresse oder kein Smartphone haben, um den Termin zu bestätigen.

Komm schon, Europa, reiß dich zusammen!

Der Autor berichtet aus Berlin für die „Los Angeles Times“(USA) und die „South China Morning Post“(Hongkong).

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Justin Huggler
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Erik Kirschbaum

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