Unser Blick auf Deutschlands Corona-Politik
Die Deutschen sind für manchen Österreicher so etwas wie Lieblingsfeinde. Umgekehrt sieht man die Sache gelassener – außer es geht um Ibiza oder Ischgl. Das eine „I“führte zu ungläubigem Staunen und Neuwahlen, das andere zur Pandemie. Diese sollte eigentlich kein Anlass sein, ein Ländermatch auszurufen, wenn es darum geht, wie mit der Krise umgegangen wurde. Doch ein paar Unterschiede gibt es schon.
Der vorsichtige Kurs hat Deutschland vermutlich vor Schlimmerem bewahrt. Die Infektionsrate ist niedriger geblieben, die Übersterblichkeit geringer als in anderen Ländern. Aus Wien wurde ich anfangs oft nach dem „deutschen Weg“gefragt und warum die Nachbarn so viel besser durch die Krise kommen. Nun, anders als in Österreich wurde die Pflicht zum Tragen einer Maske im Sommer nicht gelockert. Sie erinnerte daran, vorsichtig zu sein. Dazu hallten die Worte von Kanzlerin Angela Merkel nach: „Es ist noch nicht vorbei!“
In der Alpenrepublik ließ sich die Pandemie gut vergessen – beim Spritzer im Schanigarten oder nach der Wanderung in den vollen Berghütten. Die Quittung folgte im Herbst, als die Zahlen rasant stiegen und beide Länder wieder die Rollos runterließen. Nur dass man in Deutschland dann nicht mehr so konsequent war – etwas weniger von allem, lautete die Strategie, bis vor Weihnachten die Notbremse gezogen wurde.
Seitdem dämmert das Land dahin.
Die Kanzlerin vermochte es, mit ihrer be- sonnenen und ruhigen Art das Gefühl zu vermitteln, sie habe die Krise im Griff. Das ist sicher ihre große Stärke. Doch davon losgelöst stellt sich die Frage, warum ihre Regierung in manchen Dingen so lange gewartet hat. Zum Beispiel bei der Strategie für kostenlose Schnelltests, die eine gute Komponente gewesen wäre, als die ersten Schutzmaßnahmen fielen. Deutschland hätte Vorbild sein können – Organisationsweltmeister.
Stattdessen wurde es der kleine Nachbar, wenn auch durch Zufall. Denn der Plan der Österreicher war es, an bestimmten Tagen im Dezember die Massen zu testen. Doch diese blieben aus. Erst seit damit Öffnungen verknüpft wurden, gilt: Teste sich, wer kann. Und das funktioniert sehr gut, auf dem Land wie in der Stadt.
Mit dem Auto, den Öffis oder zu Fuß geht es etwa in Wien zu einem der sechs zentralen Standorte. Das Ergebnis ist meist binnen 15 Minuten auf dem Handy oder im Mail-Postfach. Hinfahren kann man jederzeit, ohne Anmeldung und mehrmals pro Woche. Derweil bohren sich Lehrer und Schüler mit den „Staberln“in der Nase. Dazu kursierte gar ein Aufklärungsvideo aus dem Wiener Bildungsministerium bei Berliner Politikern. Als diese Kunde nach Österreich drang, klopften sich einige selbst auf die Schultern: endlich einmal Erster.
Denken Österreicher an Deutschland, haben sie oft die guten Wirtschaftsdaten, die Wahlsiege von Merkel und den Weltmeisterfußball von Löw vor Augen. Sie vergessen aber, dass bei der CDU schon länger einiges im Rutschen ist und der Ball seit 2018 nicht mehr so gut rollt. Ein bisschen wirkt das Land wie ein Fußballspieler im gehobenen Alter, der zwar noch das Tor trifft, aber in Dynamik und Tempo nicht mehr mithalten kann. Auch in der Pandemie.
Klar, in puncto Impfkampagne hat fast jeder EU-Mitgliedstaat zu kämpfen, doch solange es zu wenige Dosen gibt, braucht es andere Lösungen. Die jüngsten Bilder badender Deutscher auf Mallorca zeigen, was zu erwarten ist: Die nächsten Länder, die vom Tourismus abhängig sind, werden öffnen – auch Österreich. Die Menschen reisen, die Inzidenzen steigen. „Ein zweites Ischgl will keiner“, beschwört man in Deutschland regelmäßig, aber ohne Reiseverbote oder gut durchdachte (Test-)Strategie klingt es wie ein frommer Wunsch.
Die Autorin berichtet seit 2017 als Korrespondentin für die österreichische Tageszeitung „Kurier“aus Berlin.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten staune ich als Journalist über die Deutschen. Überall gibt es inzwischen schnelleres Internet als in Deutschland, egal ob in Osteuropa oder auf dem Balkan. Obwohl die Deutschen mal als technische Pioniere, als Land der fleißigen Tüftler galten. Spätestens nach dem Dieselskandal und dem Berliner Flughafendrama bekam „Made in Germany“einen faden Beigeschmack.
Nach einem Jahr Corona-Pandemie macht sich das besonders bemerkbar. Egal wie viel ich für meinen Job als Reporter reise, wie viele verspätete Regionalbahnen oder Backshops ich besuche, meine Corona-Warn-App weist immer null Risiko-Begegnungen aus. Trotz vieler Millionen Euro von Herrn Spahn und bestimmt Abertausender sündhaft teurer Beraterstunden ist das Ding ein einziger Flop.
Weil der deutsche Datenschutz heilig ist, wie auch das grenzenlose Vertrauen in das Europa von Frau von der Leyen, das die Impfstoffbeschaffung im Sommer von Angela Merkel zugewiesen bekam. Was folgte, ist ein Elend, das gerade auch das Image der deutschen Regierung ramponiert. Mit viel Schadenfreude schaute man lange auf die USA und Großbritannien, aber diese Länder machen gerade vor, wie man unbürokratisch und rund um die Uhr impft.
Ich durfte Ende Dezember der Öffnung des ersten Berliner Impfzentrums beiwohnen. Alles war perfekt organisiert, so wie man es von Deutschland eben erwartet. Nur: Es kamen kaum Impfwillige. Und auch nach einem Jahr wird in der Bundesrepublik zu wenig getestet. Vieles wurde versprochen und kurz darauf gebrochen. Warum die vielen Tausend Arztpraxen des Landes noch immer nicht zu Impfstationen geworden sind, ist mir ein Rätsel.
Aber es gibt einen Trost. In Holland ist auch nicht alles besser. Auch dort vergaß der Corona-Minister die Distanzregeln, ebenso wie der Innenminister, der eine hübsche Hochzeit feierte. Bis Dezember waren Masken im kleinen Königreich an der Nordsee keineswegs
Pflicht. Und bei Partys von Thierry Baudets Corona-Leugner-Partei, die als politische Demonstrationen getarnt waren, tanzten Wutbürger die Polonaise.
Man sagt bei uns: „Bei den Nachbarn ist der Rasen immer grüner.“Für die Holländer mag das stimmen, da die deutschen Inzidenzzahlen besser sind. Täglich infizieren sich in den Niederlanden genauso viele Menschen wie in Deutschland, obwohl wir fast fünfmal weniger Einwohner haben.
Für die Deutschen stimmt leider der alte Spruch von Heinrich Heine nicht mehr. Bei Katastrophen, so soll der Schöngeist gemeint haben, müsse man nach Holland gehen, weil dort eh alles später passiert. Vergangene Woche jedoch wurde dort der liberale Ministerpräsident Mark Rutte wiedergewählt, der sich mit seiner laschen Haltung durch die vielen Lockdowns lavierte.
In Deutschland kann die CDU als langjährige Regierungspartei dagegen nicht profitieren. Zwischen Aachen und Berchtesgaden hat gerade die Kleinstaaterei mit ihren Ministerpräsidentenkonferenzen Konjunktur. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wurden die Regierungschefs bei den Landtagswahlen bestätigt. Keine Experimente, so lautete dort das Credo.
In Berlin sieht das anders aus. Da wird Angela Merkel nach 16 Jahren Abschied nehmen, und sie hinterlässt eine riesige politische Lücke. Viele Deutsche sind zwar unzufrieden mit der Bewältigung der Pandemie, aber ein Blick über die Grenzen zeigt, dass woanders in Europa vieles schlechter funktioniert. Gemessen an der Bevölkerung haben die meisten Länder mehr Covid-19-Sterbefälle. Das deutsche Gesundheitssystem ist zwar teuer, die Bürokratie ist groß – aber die Leistung doch besser als anderswo.
Der Autor ist Korrespondent für die niederländische Zeitung „De Telegraaf“und lebt seit 1998 in Berlin.