Grenzen überschreiten mit Joseph Beuys
Die Düsseldorfer Kunstsammlung lädt zu einem erfrischenden Panorama des kreativen Widerstands bis in die Gegenwart ein.
DÜSSELDORF Hasstiraden und gewaltsame Auseinandersetzungen waren ihm fremd: Joseph Beuys, der am 12. Mai vor 100 Jahren in Krefeld geborene Künstler von Weltrang, focht lieber friedlich im Vertrauen auf seinen Geist. Viele haben sich ihm, bewusst oder unwissentlich, bis in die Gegenwart angeschlossen – Angela Davis zum Beispiel, Bob Dylan und Greta Thunberg. Sie alle begegnen einander in einer erfrischend unakademischen Ausstellung der Kunstsammlung: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys“.
Versteht sich, dass der 1986 gestorbene Jubilar nicht nur in der Ausstellung im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden, sondern auch in Düsseldorfs Kunstsammlung allgegenwärtig ist. Auf Schritt und Tritt begegnet man ihm an Stellwänden des Klee-Saals in flirrenden, schwarz-weißen 16-Millimeter-Filmen von Aktionen aus den 70er-Jahren, in Zeitungsfotografien und Tondokumenten. In großen Lettern prangen Zitate, zum Beispiel: „Ich bin gar kein Künstler. Es sei denn unter der Voraussetzung, dass wir uns alle als Künstler verstehen, dann bin ich wieder dabei. Sonst nicht.“
Diejenigen, die Beuys beim Rundgang ihre Reverenz erweisen, sind nur zu einem geringen Teil ebenfalls Künstler. Es sind Menschen, die wie er gesellschaftlich etwas bewegt haben oder bewegen, mutige Aufmüpfige mit Ideen, wie man humanitäre Anliegen effektvoll in die Öffentlichkeit trägt. Während Beuys im Film von 1972 bei der Documenta 5 „für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“gegen Abraham David Christian-Moebuss freundschaftlich in den Ring steigt, ohne Filzhut übrigens, zeigt die britische Künstlerin Phyllida Barlow nebenan einen Wald aus Fahnen-Skulpturen, der an einen Demonstrationszug erinnert. Trotz ihrer Höhe wirken sie nicht monumental, sondern höchst beweglich.
Ein paar Schritte weiter ruft die Amerikanerin Jenny Holzer den Betrachtern ihrer drei Farbfotografien zu: „Vote your Future“. Weiße
Schriftzüge auf den abgebildeten schwarzen Lkw erläutern, was damit gemeint ist: „Du musst handeln, das Klima hat sich verändert“und „Praktiziere Gewaltlosigkeit“.
Von 2018 stammt diese Arbeit, wie auch eine Videoaufzeichnung eines Gesprächs mit der Bürgerrechtlerin Angela Davis, die in den 50er-Jahren als Kämpferin gegen den Rassismus bekannt wurde und sich heute daneben für Frieden, Frauenrechte und ein besseres Gesundheitswesen einsetzt.
Zwischendurch belehrt uns Beuys von der Wand herab: „Wir befinden uns in einer nomadischen Kultur; der Geist muss ohne feste Weltanschauung auskommen.“
Zu den eindrucksvollsten Installationen zählt Tuan Andrew Nguyens Videofilm „The Boatpeople“von 2020. Die Menschen im Flüchtlingsboot sind fünf Kinder, angeführt von einem willensstarken Mädchen. Sie gehen an Land, finden kopflose Buddha-Statuen und anderes, das von einer untergegangenen Kultur zeugt. In Erinnerung bleiben seltsame Rituale und der Kopf einer lebendigen Frau, der unerwartet aus dem Sandstrand ragt.
Inzwischen haben Michel Houellebecq, Bob Dylan und Edward Snowden sich in separaten Filmen ausgelassen über Gefahren, die von Demokratie und Kapitalismus ausgehen, über Filmtitel und Musiker der Popkultur aus den zurückliegenden 50 Jahren und über die Pflicht, nationale Gesetze zu verletzen, um ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit zu verhindern. Am Ende kann man Greta Thunberg bei ihrer Wutrede auf dem UN-Klimagipfel von 2019 noch einmal erleben.
Gemeinsam ist all diesen Persönlichkeiten, was uns Eugen Blume, einer der Kuratoren, so beschreibt: „Wir wollten Beuys nicht in erster Linie mit anderen Künstlern ins Gespräch bringen, sondern allgemeiner mit Menschen, die eine gewisse Grenze überschritten haben.“Verwandt seien sie mit Beuys in ihrer Denkrichtung: Umgestaltung der Gesellschaft und der Wirtschaft und Schutz des Klimas. Als Beuys 1982 auf der Documenta 7 sein Projekt „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“begann, war Blume zufolge „die Klimafrage noch weit weg“. Vielmehr habe Beuys die Frage beschäftigt, ob Tieren und Pflanzen Rechte zugesprochen werden müssten.
Näher an der Gegenwart liegt Beuys mit seinen Aufrufen zu Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. „Es gibt keine Alternative“– diesem Satz hätte er nicht zugestimmt. Schließlich ist jeder Mensch ein Künstler in dem Sinne, dass er „ein Träger von Fähigkeiten, ein sich selbst bestimmendes Wesen, der Souverän schlechthin in unserer Zeit“ist – „ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt“.