Umzugsservice für Ameisen
Christina Grätz ist Ameisenumsiedlerin. Wenn ein Nest einem Bauvorhaben im Weg ist, wird die Expertin gerufen. Nur mit den Händen gräbt sie die Behausung aus und sucht für die Tiere ein neues Zuhause.
Mit der Ruhe ist es gleich vorbei. Christina Grätz hält einen Moment inne, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnt. Die Frau mit den kastanienbraunen Locken hat sich die Strümpfe über die Hosenbeine gezogen, den Kragen ihrer Funktionsjacke hochgeklappt und hockt so, auf Knien, neben dem Stumpf einer alten Kiefer. Es ist 6.15 Uhr an einem Mittwochmorgen. Der Frühnebel liegt dicht und träge über dem Oder-Havel-Kanal. Vögel zwitschern. Auf der Bundesstraße B 167, die nur ein paar Meter entfernt vorbeiführt, sind noch keine Autos unterwegs.
Grätz’ Blick ruht auf einem etwa 70 Zentimeter hohen Ameisenhügel. Der Bau ist eine Ansammlung aus trockenen Nadeln, Halmen, Rinde und feinem Geäst. Hier und da sind kleine Löcher zu erkennen, ansonsten ist kein Tier zu sehen. „In der Frühe sind alle Waldameisen noch in ihrem Bau. Diesen Moment wollen wir nutzen, damit wir möglichst viele Tiere mitnehmen“, erklärt die 45-Jährige und taucht unvermittelt bis zu den Unterarmen in den Haufen ein. Entschlossen nimmt sie so viel Material wie ihre Hände fassen können und packt es zügig in den Papiersack, den ihre Kollegin Marie für sie bereithält.
Alarm! Tausende, Zehntausende Ameisen sind von der zerstörerischen Attacke aufgeschreckt und krabbeln wild durcheinander. Ein beißender Geruch von ätzender Ameisensäure verbreitet sich, kribbelt in der Nase, lässt die Augen tränen. Ein verzweifelter Versuch der Tiere, sich gegen die mächtige Angreiferin zu wehren. Dabei ist Grätz alles andere als eine Feindin – sie ist professionelle Ameisenhegerin. Ihr Ziel: die quirligen Insekten samt Nest umzusiedeln um ihnen ein neues, sicheres Zuhause zu geben.
Denn dort, wo die Ameisen aktuell wohnen, können sie nicht bleiben. Schon vor Wochen wurden die alten Kiefern gefällt, bald rollen Bagger auf das Waldstück in der Nähe von Finowfurth, 50 Kilometer nördlich von Berlin. Die schweren Maschinen werden das Erdreich abtragen, um den Oder-Havel-Kanal für die Schifffahrt zu verbreitern.
„Wir sind für die Waldameisen eine Art Umzugsservice“, sagt Grätz. „Gerufen und bezahlt werden wir von den Bauherren, die auf dem Territorium der kleinen Insekten neue Wohngebiete, Pipelines, Straßen oder Solarparks bauen wollen. Je nachdem wie arbeitsintensiv die Umsiedlung ist, kostet unsere Arbeit zwischen 700 und 4000 Euro.“
Wie wichtig die arbeitsamen Tiere für das ökologische Gleichgewicht sind, ist wissenschaftlich erwiesen. Sie lockern den Boden auf, verteilen Pflanzensamen und fressen Aas und kranke Tiere. Eine Kolonie kann an einem Tag bis zu 100.000 Beutetiere verzehren und ist damit quasi die Müllabfuhr des Waldes.
Die Waldameisen von Finowfurth sind ihrer Retterin an diesem Morgen alles andere als dankbar. Ein kleiner Trupp hat sich auf den Weg über die Arme zu ihrem Nacken gemacht, die ersten Tiere haben den Kopf erreicht, kriechen Grätz in Ohren und Haare. „Ich frage mich, woher die so genau wissen, wo sie mir wehtun können“, sagt die 45-Jährige und pustet eine Ameise von der Lippe.
Trotz des Störkommandos lässt sie sich in ihrer Arbeit nicht beirren. Schicht für Schicht trägt sie den Haufen ab, legt zahllose Gänge und Kammern offen, in denen Eier und Puppen abgelegt und die jungen Ameisen aufgezogen werden. Jeder Papiersack, der mit Tieren und Nistmaterial gefüllt wird, wird gewissenhaft nummeriert, damit das Material später in einer bestimmten Reihenfolge am neuen Standort ausgebracht werden kann.
Als neue Heimat für ihre Schützlinge hat Grätz ein Waldstück etwa sieben Kilometer entfernt ausgesucht, ein sonnenbeschienenes Areal zwischen zwei alten Eichen. Ein perfekter Ort. Der Förster ist informiert und freut sich auf den fleißigen Zuzug. Die Bäume dort sind alt und auf den Blättern leben viele Läuse, die einen süßen Honigtau ausscheiden – die Leibspeise der Ameisen.
Aber noch ist es nicht so weit. Zwar ist der braune Hügel schnell abgetragen, 30 Säcke sind schon mit dem lockeren Material gefüllt, doch als Grätz auf Höhe des Waldbodens angekommen ist, geht die Arbeit erst richtig los. „Das war nur die Spitze des Ameisenhaufens“, sagt sie und wischt sich den Schweiß von der Stirn. In der Regel liege der weitaus größere Teil des Baus noch metertief in der Erde und schließe auch große Teile eines alten Baumstamms ein, in dessen Nähe die Ameisen gerne ihre Nester bauen.
„Ich schätze, dass wir noch 100 Säcke einpacken werden; und dann legen wir das Wurzelwerk frei und schneiden mit der Motorsäge einen Teil des Stumpfes ab, den wir dann auch einpacken und…“, Grätz unterbricht ihren Satz und greift zielsicher mitten in das Ameisengewimmel. „Hier ist eine Königin“, ruft sie erfreut und hält eine besonders dicke Ameise zwischen den Fingern. Dann setzt sie das Tier behutsam in ein leeres Marmeladeglas und schließt den Deckel.
Bei näherem Hinsehen ist zu erkennen, dass diese Ameise nicht nur deutlich größer ist als die Arbeiterinnen, auch ihr Hinterleib glänzt auffällig. „Dort liegt die Spermatheka“, erklärt Grätz. „Das ist das Organ, in dem sie die Spermien speichert.“Die Königin verlässt nur einmal in ihrem Leben, zum Hochzeitsflug, den Bau. Nachdem sie begattet wurde, verliert sie ihre Flügel und kehrt zurück ins Nest, in dem sie dann mehr als 25, manchmal sogar bis zu 30 Jahre lang, unermüdlich Nachwuchs produziert.
„Sobald wir eine Königin gefunden haben, können wir entspannter weiter arbeiten. Die meisten Waldameisenarten haben zwar mehr als eine Königin – es können sogar mehr als 1000 pro Nest sein – aber mindestens eine von ihnen muss mit umziehen, damit das Volk überleben kann“, erklärt die Expertin und lächelt zufrieden über ihre Entdeckung.
Für Christina Grätz ist das Ameisenretten eine Herzensangelegenheit. Dabei hatte die studierte Biologin ursprünglich mit Insekten nicht viel am Hut. „Mein Herz schlug eher für die Botanik“, erzählt sie, als sie schon gut einen Meter tief gegraben hat und nur noch ihr Haarschopf aus dem Erdloch schaut. Grätz ist in der Lausitz groß geworden. Irgendwann wurde unter dem Dorf in dem sie wohnte, ein Kohlenflöz entdeckt. „Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich miterlebt, wie mein Elternhaus und unser wunderschöner, verwunschener Garten zerstört wurden, um dort die Bodenschätze abzubauen.“
Als die Bagger fort waren, ließen sie überall karge, triste, sandige Wüsten zurück. Ein Schock, der das naturverbundene Kind prägte. Als Erwachsene machte es sich Grätz dann zur Aufgabe, die sogenannten „Bergbaufolgelandschaften“wieder zu besiedeln. Im Rahmen eines Projektes lernte sie dann zufällig einen Ameisenumsiedler kennen. Als Grätz unter seiner Anleitung das erste Mal ihre Hände in ein Ameisennest grub, war es um sie geschehen.
Mehr als 2000 Völker hat Grätz seither umgesetzt. Wenn es um Ameisen geht, kommt sie ins Schwärmen: Sie erzählt von Blattschneideameisen, die in den Tiefen ihres Baus – wie Gärtner – einen großen Pilz züchten. Von Waldameisen, die Medizin herstellen, wenn die Blattläuse, von denen sie den Saft ernten, krank werden. Von Selbstmord-Ameisen, die sich in die Luft sprengen, um feindliche Tiere mit in den Tod zu reißen und so ihre Artgenossinnen zu schützen.
Nach fünf Stunden schweißtreibender Arbeit ist der Ameisenhaufen verpackt. Marie packt die letzte Tüte auf die Ladefläche des
Jeeps. Am neuen Standort wird das Material nach genauem Plan wieder ausgebracht, der Aufbau des Hügels so gut wie möglich rekonstruiert.
Sobald die Säcke ausgeleert worden sind, beginnen die emsigen Ameisen auch schon wieder mit der Arbeit. Jedes Tier scheint genau zu wissen was seine Aufgabe ist. Die älteren Ameisen, die im „Außendienst“tätig sind, packen mit ihren Mundwerkzeugen die Arbeiterinnen des „Innendienstes“und tragen diese entschlossen in den Bau. Schon nach wenigen Minuten sind alle weißen Puppen im Inneren des neuen Stocks verschwunden und Rettungstrupps beginnen ihre Schwestern, die unter Sand vergraben sind, auszubuddeln.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Tiere untereinander über Duftstoffe kommunizieren. Wie genau sie aber ihre Entscheidungen treffen, ist noch nicht geklärt. „Mich fasziniert dieser unfassbare Gemeinsinn, und dass die Ameisen jede Herausforderung
annehmen“, sagt Grätz. Auch sie selbst ist mit 100 Prozent bei der Sache. Während ihre beiden Helferinnen an diesem Tag nach mittlerweile fast zehn Stunden harter, körperlicher Arbeit etwas müde wirken, ist sie noch voller Elan und verteilt das ausgestreute Nistmaterial mit einer Harke, damit möglichst wenig der umgesiedelten Tiere erdrückt werden.
„Wer sich mit Ameisen beschäftigt, kann nur staunen. Vor Kurzem habe ich ein Nest in Jänschwalde umgesiedelt. Irgendwie hatte ich hinterher das Gefühl, dass wir ein paar Tiere vergessen haben könnten, und fuhr noch einmal mit meiner Tochter Jasmin
zusammen hin. Als wir ankamen, stellten wir erstaunt fest, dass die Ameisen schon eine eigene Rettungsaktion für ihre zurückgebliebenen Schwestern gestartet hatten.“Die Strecke vom neuen zum alten Nest war etwa 700 Meter lang. Unterwegs hatten die Tiere kleine Ausruh- und Versorgungsstationen aufgebaut. Am alten Standort angekommen, nahmen sie die Alleingelassenen Huckepack und schleppten sie in ihr neues Zuhause, berichtet Grätz.
„Übertragen auf uns Menschen wäre das so, als würde ich jemanden bitten, von München nach Hamburg zu laufen, seine Schwester auf den Rücken zu nehmen und wieder zurückzulaufen. Trotz dieser unglaublichen Entfernung für so kurze Beine – die Ameisen haben diese Herausforderung ganz selbstverständlich angenommen. Dabei wäre es für das Überleben der Kolonie gar nicht nötig gewesen. Aber sie haben es getan. Sie wollten offenbar niemanden zurücklassen. Sowas imponiert mir“, sagt sie.