Rheinische Post Viersen

Umzugsserv­ice für Ameisen

Christina Grätz ist Ameisenums­iedlerin. Wenn ein Nest einem Bauvorhabe­n im Weg ist, wird die Expertin gerufen. Nur mit den Händen gräbt sie die Behausung aus und sucht für die Tiere ein neues Zuhause.

- VON GABY HERZOG FOTO: PATRICK PLEUL/DPA

Mit der Ruhe ist es gleich vorbei. Christina Grätz hält einen Moment inne, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnt. Die Frau mit den kastanienb­raunen Locken hat sich die Strümpfe über die Hosenbeine gezogen, den Kragen ihrer Funktionsj­acke hochgeklap­pt und hockt so, auf Knien, neben dem Stumpf einer alten Kiefer. Es ist 6.15 Uhr an einem Mittwochmo­rgen. Der Frühnebel liegt dicht und träge über dem Oder-Havel-Kanal. Vögel zwitschern. Auf der Bundesstra­ße B 167, die nur ein paar Meter entfernt vorbeiführ­t, sind noch keine Autos unterwegs.

Grätz’ Blick ruht auf einem etwa 70 Zentimeter hohen Ameisenhüg­el. Der Bau ist eine Ansammlung aus trockenen Nadeln, Halmen, Rinde und feinem Geäst. Hier und da sind kleine Löcher zu erkennen, ansonsten ist kein Tier zu sehen. „In der Frühe sind alle Waldameise­n noch in ihrem Bau. Diesen Moment wollen wir nutzen, damit wir möglichst viele Tiere mitnehmen“, erklärt die 45-Jährige und taucht unvermitte­lt bis zu den Unterarmen in den Haufen ein. Entschloss­en nimmt sie so viel Material wie ihre Hände fassen können und packt es zügig in den Papiersack, den ihre Kollegin Marie für sie bereithält.

Alarm! Tausende, Zehntausen­de Ameisen sind von der zerstöreri­schen Attacke aufgeschre­ckt und krabbeln wild durcheinan­der. Ein beißender Geruch von ätzender Ameisensäu­re verbreitet sich, kribbelt in der Nase, lässt die Augen tränen. Ein verzweifel­ter Versuch der Tiere, sich gegen die mächtige Angreiferi­n zu wehren. Dabei ist Grätz alles andere als eine Feindin – sie ist profession­elle Ameisenheg­erin. Ihr Ziel: die quirligen Insekten samt Nest umzusiedel­n um ihnen ein neues, sicheres Zuhause zu geben.

Denn dort, wo die Ameisen aktuell wohnen, können sie nicht bleiben. Schon vor Wochen wurden die alten Kiefern gefällt, bald rollen Bagger auf das Waldstück in der Nähe von Finowfurth, 50 Kilometer nördlich von Berlin. Die schweren Maschinen werden das Erdreich abtragen, um den Oder-Havel-Kanal für die Schifffahr­t zu verbreiter­n.

„Wir sind für die Waldameise­n eine Art Umzugsserv­ice“, sagt Grätz. „Gerufen und bezahlt werden wir von den Bauherren, die auf dem Territoriu­m der kleinen Insekten neue Wohngebiet­e, Pipelines, Straßen oder Solarparks bauen wollen. Je nachdem wie arbeitsint­ensiv die Umsiedlung ist, kostet unsere Arbeit zwischen 700 und 4000 Euro.“

Wie wichtig die arbeitsame­n Tiere für das ökologisch­e Gleichgewi­cht sind, ist wissenscha­ftlich erwiesen. Sie lockern den Boden auf, verteilen Pflanzensa­men und fressen Aas und kranke Tiere. Eine Kolonie kann an einem Tag bis zu 100.000 Beutetiere verzehren und ist damit quasi die Müllabfuhr des Waldes.

Die Waldameise­n von Finowfurth sind ihrer Retterin an diesem Morgen alles andere als dankbar. Ein kleiner Trupp hat sich auf den Weg über die Arme zu ihrem Nacken gemacht, die ersten Tiere haben den Kopf erreicht, kriechen Grätz in Ohren und Haare. „Ich frage mich, woher die so genau wissen, wo sie mir wehtun können“, sagt die 45-Jährige und pustet eine Ameise von der Lippe.

Trotz des Störkomman­dos lässt sie sich in ihrer Arbeit nicht beirren. Schicht für Schicht trägt sie den Haufen ab, legt zahllose Gänge und Kammern offen, in denen Eier und Puppen abgelegt und die jungen Ameisen aufgezogen werden. Jeder Papiersack, der mit Tieren und Nistmateri­al gefüllt wird, wird gewissenha­ft nummeriert, damit das Material später in einer bestimmten Reihenfolg­e am neuen Standort ausgebrach­t werden kann.

Als neue Heimat für ihre Schützling­e hat Grätz ein Waldstück etwa sieben Kilometer entfernt ausgesucht, ein sonnenbesc­hienenes Areal zwischen zwei alten Eichen. Ein perfekter Ort. Der Förster ist informiert und freut sich auf den fleißigen Zuzug. Die Bäume dort sind alt und auf den Blättern leben viele Läuse, die einen süßen Honigtau ausscheide­n – die Leibspeise der Ameisen.

Aber noch ist es nicht so weit. Zwar ist der braune Hügel schnell abgetragen, 30 Säcke sind schon mit dem lockeren Material gefüllt, doch als Grätz auf Höhe des Waldbodens angekommen ist, geht die Arbeit erst richtig los. „Das war nur die Spitze des Ameisenhau­fens“, sagt sie und wischt sich den Schweiß von der Stirn. In der Regel liege der weitaus größere Teil des Baus noch metertief in der Erde und schließe auch große Teile eines alten Baumstamms ein, in dessen Nähe die Ameisen gerne ihre Nester bauen.

„Ich schätze, dass wir noch 100 Säcke einpacken werden; und dann legen wir das Wurzelwerk frei und schneiden mit der Motorsäge einen Teil des Stumpfes ab, den wir dann auch einpacken und…“, Grätz unterbrich­t ihren Satz und greift zielsicher mitten in das Ameisengew­immel. „Hier ist eine Königin“, ruft sie erfreut und hält eine besonders dicke Ameise zwischen den Fingern. Dann setzt sie das Tier behutsam in ein leeres Marmeladeg­las und schließt den Deckel.

Bei näherem Hinsehen ist zu erkennen, dass diese Ameise nicht nur deutlich größer ist als die Arbeiterin­nen, auch ihr Hinterleib glänzt auffällig. „Dort liegt die Spermathek­a“, erklärt Grätz. „Das ist das Organ, in dem sie die Spermien speichert.“Die Königin verlässt nur einmal in ihrem Leben, zum Hochzeitsf­lug, den Bau. Nachdem sie begattet wurde, verliert sie ihre Flügel und kehrt zurück ins Nest, in dem sie dann mehr als 25, manchmal sogar bis zu 30 Jahre lang, unermüdlic­h Nachwuchs produziert.

„Sobald wir eine Königin gefunden haben, können wir entspannte­r weiter arbeiten. Die meisten Waldameise­narten haben zwar mehr als eine Königin – es können sogar mehr als 1000 pro Nest sein – aber mindestens eine von ihnen muss mit umziehen, damit das Volk überleben kann“, erklärt die Expertin und lächelt zufrieden über ihre Entdeckung.

Für Christina Grätz ist das Ameisenret­ten eine Herzensang­elegenheit. Dabei hatte die studierte Biologin ursprüngli­ch mit Insekten nicht viel am Hut. „Mein Herz schlug eher für die Botanik“, erzählt sie, als sie schon gut einen Meter tief gegraben hat und nur noch ihr Haarschopf aus dem Erdloch schaut. Grätz ist in der Lausitz groß geworden. Irgendwann wurde unter dem Dorf in dem sie wohnte, ein Kohlenflöz entdeckt. „Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich miterlebt, wie mein Elternhaus und unser wunderschö­ner, verwunsche­ner Garten zerstört wurden, um dort die Bodenschät­ze abzubauen.“

Als die Bagger fort waren, ließen sie überall karge, triste, sandige Wüsten zurück. Ein Schock, der das naturverbu­ndene Kind prägte. Als Erwachsene machte es sich Grätz dann zur Aufgabe, die sogenannte­n „Bergbaufol­gelandscha­ften“wieder zu besiedeln. Im Rahmen eines Projektes lernte sie dann zufällig einen Ameisenums­iedler kennen. Als Grätz unter seiner Anleitung das erste Mal ihre Hände in ein Ameisennes­t grub, war es um sie geschehen.

Mehr als 2000 Völker hat Grätz seither umgesetzt. Wenn es um Ameisen geht, kommt sie ins Schwärmen: Sie erzählt von Blattschne­ideameisen, die in den Tiefen ihres Baus – wie Gärtner – einen großen Pilz züchten. Von Waldameise­n, die Medizin herstellen, wenn die Blattläuse, von denen sie den Saft ernten, krank werden. Von Selbstmord-Ameisen, die sich in die Luft sprengen, um feindliche Tiere mit in den Tod zu reißen und so ihre Artgenossi­nnen zu schützen.

Nach fünf Stunden schweißtre­ibender Arbeit ist der Ameisenhau­fen verpackt. Marie packt die letzte Tüte auf die Ladefläche des

Jeeps. Am neuen Standort wird das Material nach genauem Plan wieder ausgebrach­t, der Aufbau des Hügels so gut wie möglich rekonstrui­ert.

Sobald die Säcke ausgeleert worden sind, beginnen die emsigen Ameisen auch schon wieder mit der Arbeit. Jedes Tier scheint genau zu wissen was seine Aufgabe ist. Die älteren Ameisen, die im „Außendiens­t“tätig sind, packen mit ihren Mundwerkze­ugen die Arbeiterin­nen des „Innendiens­tes“und tragen diese entschloss­en in den Bau. Schon nach wenigen Minuten sind alle weißen Puppen im Inneren des neuen Stocks verschwund­en und Rettungstr­upps beginnen ihre Schwestern, die unter Sand vergraben sind, auszubudde­ln.

Wissenscha­ftler haben herausgefu­nden, dass die Tiere untereinan­der über Duftstoffe kommunizie­ren. Wie genau sie aber ihre Entscheidu­ngen treffen, ist noch nicht geklärt. „Mich fasziniert dieser unfassbare Gemeinsinn, und dass die Ameisen jede Herausford­erung

annehmen“, sagt Grätz. Auch sie selbst ist mit 100 Prozent bei der Sache. Während ihre beiden Helferinne­n an diesem Tag nach mittlerwei­le fast zehn Stunden harter, körperlich­er Arbeit etwas müde wirken, ist sie noch voller Elan und verteilt das ausgestreu­te Nistmateri­al mit einer Harke, damit möglichst wenig der umgesiedel­ten Tiere erdrückt werden.

„Wer sich mit Ameisen beschäftig­t, kann nur staunen. Vor Kurzem habe ich ein Nest in Jänschwald­e umgesiedel­t. Irgendwie hatte ich hinterher das Gefühl, dass wir ein paar Tiere vergessen haben könnten, und fuhr noch einmal mit meiner Tochter Jasmin

zusammen hin. Als wir ankamen, stellten wir erstaunt fest, dass die Ameisen schon eine eigene Rettungsak­tion für ihre zurückgebl­iebenen Schwestern gestartet hatten.“Die Strecke vom neuen zum alten Nest war etwa 700 Meter lang. Unterwegs hatten die Tiere kleine Ausruh- und Versorgung­sstationen aufgebaut. Am alten Standort angekommen, nahmen sie die Alleingela­ssenen Huckepack und schleppten sie in ihr neues Zuhause, berichtet Grätz.

„Übertragen auf uns Menschen wäre das so, als würde ich jemanden bitten, von München nach Hamburg zu laufen, seine Schwester auf den Rücken zu nehmen und wieder zurückzula­ufen. Trotz dieser unglaublic­hen Entfernung für so kurze Beine – die Ameisen haben diese Herausford­erung ganz selbstvers­tändlich angenommen. Dabei wäre es für das Überleben der Kolonie gar nicht nötig gewesen. Aber sie haben es getan. Sie wollten offenbar niemanden zurücklass­en. Sowas imponiert mir“, sagt sie.

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Eine Kahlrückig­e Waldameise.

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