Rheinische Post Viersen

Und wieder fraß die Revolution ihre Kinder

Vor 150 Jahren kommt es in der französisc­hen Hauptstadt zum gewalttäti­gen Umsturz. Die „Commune de Paris“will eine bessere Welt und geht in einem Blutbad unter. Der Mythos lebt noch heute fort, doch er hat tiefe Risse.

- VON KNUT KROHN

Julien Girard ist enttäuscht. Am Metallzaun vor der Kirche Sacré-Coeur flattert müde ein roter Wimpel im Wind. „Vive la Commune“ist in großen schwarzen Buchstaben darauf zu lesen. Auf den steinernen Stufen hinauf zur Basilika liegt einsam ein Bund roter Rosen. „Wegen Corona müssen die Feiern wohl etwas kleiner ausfallen“, mutmaßt der 70-Jährige.

Vor 150 Jahren errichtete­n die Einwohner von Paris auf dem Montmartre erste Barrikaden. Der Hügel war damals ein Elendsvier­tel, in dem vor allem Tagelöhner und Prostituie­rte lebten. Sie widersetzt­en sich der Zentralreg­ierung, für viele Franzosen auch heute noch ein zentrales Datum in der wechselvol­len und auch blutigen Geschichte des Landes. „Das war das erste Mal, dass unterdrück­te Menschen die Macht an sich rissen und eine gerechte Herrschaft anstrebten“, sagt Julien Girard, „es war der Versuch, eine Alternativ­e zu den feudalen Strukturen und zum Kapitalism­us aufzubauen.“Vom flammenden Plädoyer für die Ziele der Pariser Kommune zieht er in seiner Erzählung eine direkte Verbindung zu den Studentenr­evolten im Paris Ende der 1960er-Jahre, an denen er selbst teilgenomm­en habe.

Die Erinnerung­en an die Pariser Kommune werden allerdings nicht von allen Franzosen in gleicher Weise gepflegt, sie spalten sogar noch heute die politische Landschaft. Laurence Patrice, linke Vize-Bürgermeis­terin von Paris und zuständig für die Organisati­on der Gedenkvera­nstaltunge­n zum 150-Jahr-Jubiläum, schlug vor, die „modernste Revolution“mit ihren Forderunge­n wie der Gleichstel­lung von Mann und Frau, der Trennung von Staat und Kirche und der kostenlose­n Schulbildu­ng groß zu feiern. Angesichts dieser Lobeshymne platzte dem konservati­ven Stadtrat David Alphand der Kragen, denn er wollte auch die sehr dunkle Seite der Verbrechen und der Gewalt erwähnt wissen, die Paris damals für 72 Tage erschütter­ten.

Es waren unübersich­tliche Wochen in Frankreich in jenem Spätwinter 1871. Die Deutschen hatten den Krieg auf ganzer Linie gewonnen. Eine konservati­ve Übergangsr­egierung versuchte, Frieden mit Kanzler Otto von Bismarck zu schließen, während Monarchist­en, Republikan­er und radikale Linke um die Macht kämpften. In Paris lebte der Großteil der Arbeiter in bitterer Armut, sie waren auf die Kriegsparo­len der Rechten hereingefa­llen, und viele schäumten angesichts der Kapitulati­on vor Wut. Als sich Teile der Nationalga­rde mit dem proletaris­chen Teil der Bevölkerun­g verbündete, brach am 18. März der Aufstand los. Die Regierung floh nach Versailles und die Revolution­äre begannen damit, die Grundlagen einer neuen Gesellscha­ft zu organisier­en.

Am 26. März 1871 wurden Wahlen abgehalten, die aber in einem heillosen Chaos endeten. Dennoch fand am 28. März die erste offizielle Sitzung der Kommune statt. Streit herrschte allerdings darüber, ob die Revolution auf Paris beschränkt bleiben oder der Sturm auf Versailles organisier­t werden sollte. Einige Hitzköpfe plädierten dafür, die deutschen Truppen erneut anzugreife­n, um den bereits verlorenen Krieg doch noch für Frankreich zu gewinnen.

Zwar verabschie­deten die Kommunarde­n in jenen Tagen eine Vielzahl von Maßnahmen, um etwa die erbärmlich­en Lebensbedi­ngungen der Arbeitersc­haft zu verbessern, doch allzu oft versanken die Versammlun­gen in ihrer eigenen Unordnung. Innerhalb weniger Wochen übernahmen die Scharfmach­er das Wort, immer radikaler wurden die Forderunge­n. Es folgten gegenseiti­ge Verdächtig­ungen und Inhaftieru­ngen der führenden Köpfe. Die Revolution fraß erneut ihre Kinder.

Fast wäre der Maler Auguste Renoir diesen wilden „Säuberungs­maßnahmen“zum Opfer gefallen. Der Künstler stand eines Morgens nichtsahne­nd am Ufer der Seine und brachte mit schwungvol­lem Pinsel Farben auf die Leinwand. Für einen Trupp der Nationalga­rde stellten die in ihren Augen formlosen Kleckse Aufzeichnu­ngen eines Spions im Dienste von Versailles dar, der die Verteidigu­ngslinien entlang des Flusses skizzierte. Der Maler wurde verhaftet und sollte exekutiert werden. Das Leben rettete ihm in letzter Sekunde die Interventi­on eines Polizeiprä­fekten, der die Bilder des Malers kannte.

In Versailles hatten sich derweil die Regierungs­truppen wieder formiert und begannen mit der blutigen Rückerober­ung der Stadt. Die Kommunarde­n wollten den anrückende­n Soldaten eine „Barriere aus Flammen“entgegenst­ellen, schrieb Louise Michel, eine der Anführerin­nen der Aufständis­chen. Nach ihr ist heute der Platz unterhalb

Gewinner Einer der Sieger des Kampfes von Franzosen gegen Franzosen war am Ende der deutsche Reichskanz­ler Otto von Bismarck. Das neu gegründete Deutsche Reich spielte im Frieden vom Frankfurt am 10. Mai 1871, der formell den Deutsch-Französisc­hen Krieg beendete, seinen militärisc­hen Erfolg voll aus.

Konsequenz­en Frankreich musste die überwiegen­d deutschspr­achigen Gebiete Elsass und Teile Lothringen­s an das Deutsche Reich, das während des Kriegs gegründet wurde, abtreten. der Basilika Sacré-Coeur benannt. So entwickelt­e sich ein regelrecht­er Bürgerkrie­g, und es gingen unzählige Häuser und Paläste wie das Rathaus, die Tuilerien und das Palais Royal unwiederbr­inglich in Flammen auf.

Am Ende regierte auf beiden Seiten ein alles vernichten­der Hass auf den Gegner. Bei den Kämpfen in der „blutigen Woche“vom 21. bis 28. Mai 1871 schossen Regierungs­soldaten wahllos auf Verdächtig­e – Männer, Frauen und sogar auf Kinder. Die Kommunarde­n töteten ihrerseits etliche Geiseln und legten immer wieder wahllos Brände in der Stadt.

Die Aufständis­chen verschanzt­en sich schließlic­h auf dem Friedhof Père Lachaise im Osten von Paris. Ende Mai wurden dort die letzten 147 Kommunarde­n an einer Mauer standrecht­lich erschossen. Über die gesamte Zahl der Toten in jenen 72 Tagen gibt es nur Schätzunge­n, sie liegen zwischen 7000 und 30.000 Opfern.

Auf dem Friedhof Père Lachaise erinnert noch heute an der „Mur des Fédérés“(„Mauer der Verbündete­n“) eine große Tafel an jene 147 exekutiert­en Kommunarde­n. Die Mauer ist längst eine Art Wallfahrts­ort der französisc­hen Linken und an ihrem Fuß liegen immer frische Blumen. So erfüllt sich zumindest ein Wunsch der Kommunardi­n Louise Michel. Sie wurde nach den blutigen Kämpfen in eine Strafkolon­ie in Neukaledon­ien deportiert und beschwor von dort die Nachkommen, die Ideen des Aufstandes nie zu vergessen. Allerdings ist der Mythos der Pariser Kommune durch den sezierende­n Blick der Geschichts­wissenscha­ft auf jene Zeit inzwischen weitgehend entzaubert.

Otto von Bismarck profitiert­e vom Krieg

„Das war das erste Mal, dass unterdrück­te Menschen die Macht an sich rissen und eine gerechte Herrschaft anstrebten“

Julien Girard

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FOTO: ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP Diese Pappaufste­ller der Kommunarde­n auf den Stufen vor der Basilika Sacré-Coeur wurden zum Jubiläum vom Künstler Dugudus gestaltet.
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FOTO: ANONYME/PARIS MUSÉES/DPA Diese vom Pariser Musée Carnavalet zur Verfügung gestellte Fotografie zeigt einen Artillerie­park auf dem Hügel von Montmartre am 18. März 1871.
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FOTO: CHRISTIAN BÖHMER/DPA Gedenktafe­l an der „Mur des Fédérés“(„Mauer der Verbündete­n“) auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise im Osten der Hauptstadt.

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