„Wir brauchen Pflichtbewusstsein für den Staat“
In der Pandemie darf sich die Gesellschaft bei aller berechtigten Obrigkeitskritik nicht entsolidarisieren, sagt der Philosoph.
Herr Precht, würden Sie sich selbst als einen pflichtbewussten Menschen bezeichnen?
PRECHT Sicherlich nicht gerade als einen pflichtversessenen Menschen. Aber durchaus als einen Menschen, der weiß, dass er auch Pflichten in seinem Leben hat.
Und wie äußert sich das konkret? PRECHT Na ja, es gibt Pflichten, über die man nicht lange diskutieren muss, wie etwa die Pflicht, seine Steuern zu zahlen; oder die Pflicht, sich weitestgehend an Gesetze und Verkehrsregeln zu halten. Und es gibt dazu die empfundenen Pflichten – etwa jene gegenüber Freunden, Angehörigen und anderen Mitmenschen.
In dem Klassiker von Siegfried
Lenz, „Deutschstunde“, muss der jugendliche Held Siggi zur Strafe einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“schreiben. Pflicht wird im Kontext des Romans auch als ein Charakteristikum des Nationalsozialismus beschrieben. Ist seitdem die Pflicht in Verruf geraten? PRECHT Das beginnt ja noch früher. All die Pflichten, die ein Untertan in einer Monarchie oder Aristokratie hatte, wurden durch die Aufklärung im Grunde erledigt. Stattdessen wurde die Kategorie der Selbstverpflichtung eingeführt. Das ist etwas, was ich als Pflicht empfinde und was zurückgeht auf die Pflichtethik Immanuel Kants. Der Prozess der Individualisierung des Bürgers geht einher mit einem Prozess der Entpflichtung gegenüber staatlichen Ansprüchen. Das 20. Jahrhundert hat das immer weiter voran getrieben. Das ist eine richtige und sehr begrüßenswerte Entwicklung. Ich finde es wunderbar, dass wir nicht mehr die Pflicht haben, in einen mörderischen Krieg zu ziehen. Aber die völlige Entpflichtung gegenüber dem Staat, die für manche radikale Liberale das Ziel zu sein scheint, ist kein wünschenswertes Ziel. Sie würde zu einer unregierbaren Gesellschaft führen. Es gibt also nicht nur eine Grenze der Pflicht, sondern auch eine Grenze der Entpflichtung, die wir nicht überschreiten sollten.
Dennoch klingt der Begriff der Pflicht in unserem grenzenlosen Freiheitsdrang heutzutage fast ein wenig verstaubt.
PRECHT Was wirklich schade und ein
Grund mehr ist, das Wort wieder zu entstauben. Ohne Pflichten wird es auch in Zukunft nicht gehen. Und der libertäre Gedanke, dass das Ziel unseres Glücks darin bestünde, dass Menschen von allen nur erdenklichen Pflichten gegenüber dem Staat befreit werden, das wird uns nicht ins Paradies führen. Das Pflichtbewusstein, das die Menschen gegenüber dem Staat haben, darf auf keinen Fall verlorengehen. Das ist übrigens etwas grundsätzlich anderes, als die Regierung zu kritisieren und ihr zu widersprechen.
Es dürfte manchem schwer fallen, das auseinanderzuhalten oder auch wirklich auseinanderhalten zu wollen…
PRECHT Es ist das Schwierigste in allen Diskussionen darüber: meine Meinung und meine Pflicht voneinander zu trennen. Meine Meinung über die Schließung von Friseursalons als Corona-Schutzmaßnahme, von Fitnessstudios oder Schulen ist mir unbenommen, und ich kann sie äußern soviel ich will. Wichtig ist, dass ich grundsätzlich akzeptiere, dass der Staat, um die Schwachen zu schützen, mir Pflichten auferlegt. Hier geht es nämlich nicht an, dass jeder das, was der Staat ihm als Pflicht auferlegt, willkürlich interpretiert und danach handelt. Wenn alle das täten, entstünde ein Zustand der Unregierbarkeit. Damit man mich nicht falsch versteht: Wir können über die Mängel der Impfkampagne und den Sinn von Masken im Freien bitte immer herzlich gerne diskutieren. Aber zu sagen, ich fühle mich an die Maßnahmen des Staates nicht gebunden, ist etwas ganz und gar anderes.
Also ist Ruhe nicht die erste Bürgerpflicht, wozu im 19. Jahrhundert zu verschiedenen Anlässen das Volk ermuntert wurde?
PRECHT In der Tat: Es geht nicht darum, dass die Leute ruhig sind! Sie sollen sich ihre Urteile bilden und ihre Vorschläge einbringen. Aber sie sollen sich grundsätzlich nicht aus unserer Solidargemeinschaft verabschieden. Staatliche Maßnahmen sind keine Frage von persönlichen Meinungen – es sei denn, sie verstoßen gegen die Menschenwürde. Und das ist beim zeitweiligen Maskentragen oder beim Einschränken von Begegnungen definitiv nicht der Fall!
Nun gibt es einige, die sich lautstark aus dieser Solidargemeinschaft ausklinken wollen. Steckt hinter dieser Corona-Verdrossenheit auch eine gute Portion Staatsverdrossenheit?
PRECHT Genau das macht mir so viel Sorgen. Nun bin ich ja ein Mensch, der in den vergangenen Jahrzehnten viele Politiker und viele politische Entscheidungen kritisiert hat. Aber es ist doch etwas komplett anderes, ob ich bestimmte Regeln und Ansichten kritisiere, oder ob ich beginne, dem deutschen Staat jede Sauerei zuzutrauen! Woran liegt es, dass ein relativ kleiner, aber doch sehr lautstarker Teil der Gesellschaft so ein negatives Verhältnis zu dem Staat hat, in dem er lebt?
Gehört zu dieser Endsolidarisierung der Gesellschaft auch das Verhalten einiger Politiker, aus der Beschaffung etwa von Masken viel Geld zu verdienen?
PRECHT Ich fürchte, dass dieses empörende Fehlverhalten Weniger sehr gut dazu genutzt werden kann, die Entsolidarisierung mancher Bürger weiter zu schüren.
Sie sehen im Kapitalismus einen der Ursprünge der Endsolidarisierung, in dem nämlich Solidarität nicht honoriert wird, sondern – im Gegenteil – das eigennützliche Streben dem Erfolg dient.
PRECHT Alexis de Tocqueville hat bereits den Widerspruch erkannt: Wenn die Menschen in einer liberalen Demokratie leben, dann sind sie in erster Linie damit beschäftigt, Geld zu vermehren. Wenn aber jeder nur noch an sein persönliches Fortkommen denkt, dann wird Egoismus gezüchtet. Dieser Egoismus widerspricht vollkommen dem Gedanken eines Volkes als Solidargemeinschaft, weil ich dafür eben auch altruistisches Gedankengut brauche. Wo aber soll in einem kapitalistischen System plötzlich der Altruismus herkommen? Diese Frage hat die Menschen immer wieder beschäftigt. Wer oder was kultiviert die sozialen Tugenden? Wer oder was garantiert eine Gemeinwohl-Orientierung der Menschen? Und dieses Problem hat sich radikalisiert – unter anderem dadurch, dass Preise heute schier unbegrenzt flexibel geworden sind. Wer nicht der Cleverste oder Schnellste ist, bezahlt doppelt so viel wie die anderen. Dadurch entsteht leider ein System des Gegeneinander und des permanenten Misstrauens.
Sind sich die Menschen in der Pandemie dennoch auch Ihrer Pflichten bewusst?
PRECHT Wir können erst einmal eine positive Bilanz ziehen: Der größte Anteil der Menschen hat sich ja an die staatlichen Maßnahmen gehalten. Völlig egal jetzt, was er privat über die eine oder andere denkt. Also: Alles in allem hat die Solidarität noch funktioniert. Und vielleicht bleibt nach der Pandemie in den Hinterköpfen der Menschen zurück, dass es nicht existenziell für das eigene Leben ist, dreimal im Jahr Fernflugreisen zu unternehmen. Die Pandemie ist ja Pillepalle zu dem, was auf die Menschen durch die Klimakatastrophe zukommt. Die Pandemie ist damit nicht zuletzt eine Einübung aufs Verzichten. Und ohne das werden wir die Klimakastrophe nicht verhindern können.