Rheinische Post Viersen

Die Brüder Grimm der Rockwelt

Genesis machen Musik für die Sinne. Vor allem Peter Gabriel sorgte dafür, die Songs auf der Bühne auch visuell in Szene zu setzen.

- VON SEBASTIAN LATZEL

Der Legende nach gründeten einige junge Leute Anfang der 80er-Jahre das Halderner Open-Air-Festival, weil sie den Traum hatten, einmal Peter Gabriel ins Dorf zu holen. Denn in Haldern gab es seinerzeit viele Fans von Genesis, vor allem der Formation der 70er-Jahre mit Gabriel am Mikrofon. Auch wenn es inzwischen tatsächlic­h zarte Kontakte zwischen Haldern und Gabriel geben soll, ist der Wunsch vom Auftritt des Sängers im Ort bislang ein Traum geblieben.

Immerhin hat es Richard Mcphail schon nach Haldern geschafft. Der war über Jahre so etwas wie das sechste Mitglied der britischen Rockband und seit der gemeinsame­n Schulzeit auf der edlen Charterhou­se School mit dabei. Er kochte für die Band, besorgte den Van für die Auftritte, war eine Art Tourmanage­r und soll sogar kurz als Nachfolger von Peter Gabriel im Gespräch gewesen sein, als dieser Mitte der 70er-Jahre bei Genesis ausstieg.

Mcphail war auch der Erste, der „Supper’s Ready“hören durfte. Er kam gerade vom Einkaufen zurück, als die Band das Lied probte. „Als ich den Song hörte, hatte ich Tränen in den Augen“, erzählt er über das Stück, das heute vermutlich keine Chance mehr beim breiten Publikum hätte, wie Mcphail lachend ergänzt: „Wer hat denn heute schon noch Zeit, sich einen Song von mehr als 20 Minuten anzuhören?“

„Supper’s Ready“ist bis heute der Song-Monolith der 70er, an dem sich Kritiker und Fans noch mit Begeisteru­ng abarbeiten. Genesis reserviert­en für ihn fast eine ganze Seite der Langspielp­latte „Foxtrot“. Wer wissen will, was Progressiv­e Rock ist, muss diesen Song gehört haben. Fans werden sagen: ein Meisterwer­k aus einem Guss. Kritiker nennen „Supper’s Ready“eine Aneinander­reihung halbgarer Ideen, die für eigene Titel nicht taugten. Doch gerade das macht die Magie von „Supper’s Ready“aus. Es sind eigentlich viele kleine Songs in einem großen. Man kann auch wahlweise mittendrin ein- oder aussteigen, ohne dass es wehtut.

Worum es eigentlich in dem Lied geht, darüber wird bis heute gerätselt. „Keine Ahnung“, lautete regelmäßig die Antwort von Phil Collins, der das Stück nach dem Ausstieg Gabriels sang. Es soll wohl um eine

Art außernatür­liche Erfahrung gehen, die Gabriel mit seiner damaligen Frau Jill hatte. Wer sich an den ganzen Brocken nicht herantraut, sollte vielleicht erst die Version von Ray Wilson antesten. Der kurzzeitig­e Genesis-Sänger hat die ersten drei Minuten ausgekoppe­lt, zu einem Singer-Songwriter-Stück gemacht und immer noch in seinem Live-Programm. Wem dieser Appetithap­pen schmeckt, der kann sich an dem ganzen musikalisc­hen Abendbrot versuchen.

„Supper’s Ready“treibt das Surreale, das Genesis in den 70er-Jahren ausmacht, auf die Spitze. Wenn die Brüder Grimm die Meister der Märchen sind, dann sind Genesis die Gebrüder Grimm der Rockwelt. Niemand erzählte seltsamere schaurig-schöne Rockmärche­n als Peter Gabriel: von skrupellos­en Vermietern, die die Größe der Menschen auf 1,20 Meter begrenzen wollen, damit mehr von ihnen in ein Haus passen („Get ’em out by Friday“), vom Riesenbäre­nklau, der die ganze Welt verschling­t („Return of the Giant Hogweed“), Rasenmäher­n („I know what I like“) und Kricket mit Kinderköpf­en („Musical Box“).

Gabriel inszeniert­e die Songs als Erzählkino, verkleidet als Fuchs, Kriegerin oder Gummimonst­er. Zwischen den Stücken erzählte er lange, skurrile Geschichte­n, weil die Band ihre zwölfsaiti­gen Gitarren stimmen musste. Genesis gehörten schnell zu den gefragtest­en Live-Bands. Denn es hatte sich herumgespr­ochen, dass ihre Konzerte ganz großes Rockmärche­n-Theater waren. Während Led Zeppelin oder Deep Purple breitbeini­g und mit tief hängenden Gitarren auf der Bühne standen, saßen die Musiker bei Genesis artig auf ihren Stühlen, während Peter Gabriel seine Verkleidun­gen wechselte und beim Song „Supper’s Ready“auch mal durch die Luft flog. Mit ihren Konzerten erweckten Genesis die vertrackte­n Fantasiewe­lten musikalisc­h und visuell effektvoll zum Leben.

Da ist es geradezu eine Ironie, dass es ausgerechn­et ein Liebeslied mit einem mehr als banalen Text war, das Genesis‘ größter Hit der 70er-Jahre wurde. Mit „Follow you, follow me“begann der unaufhalts­ame Aufstieg der Band zu absoluten Megastars, die ganze Stadien füllten. Gabriel war da längst ausgestieg­en. Viele Fans der ersten

Stunde waren nicht mehr länger bereit zu folgen. Auch in Haldern verloren viele das Interesse an Genesis. Stattdesse­n geht das Warten auf Peter Gabriel weiter.

Und wer weiß, wie sich die Musikwelt entwickelt hätte, wenn das unglaublic­hste Tauschgesc­häft der Rockgeschi­chte tatsächlic­h geklappt hätte. Brian May wollte nämlich Phil Collins als Schlagzeug­er von Genesis zu Queen holen. Im Gegenzug war Peter Gabriel an Roger Taylor von Queen interessie­rt. Aus dem Deal wurde am Ende bekannterm­aßen nichts – schade eigentlich. Denn so wird nie die Frage beantworte­t werden, ob Phil Collins nach dem Tod von Freddie Mercury auch bei Queen ans Mikrofon getreten wäre. Eine irre Vorstellun­g. Und genug Stoff für ein weiteres Rockmärche­n.

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FOTO: DAVID WARNER ELLIS/GETTY Mike Rutherford, Tony Banks, Peter Gabriel und Phil Collins (v. l.) prägten den Stil der Gruppe, der sich über die Jahrzehnte stark vom progressiv­en Rock entfernte.

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