Die Brüder Grimm der Rockwelt
Genesis machen Musik für die Sinne. Vor allem Peter Gabriel sorgte dafür, die Songs auf der Bühne auch visuell in Szene zu setzen.
Der Legende nach gründeten einige junge Leute Anfang der 80er-Jahre das Halderner Open-Air-Festival, weil sie den Traum hatten, einmal Peter Gabriel ins Dorf zu holen. Denn in Haldern gab es seinerzeit viele Fans von Genesis, vor allem der Formation der 70er-Jahre mit Gabriel am Mikrofon. Auch wenn es inzwischen tatsächlich zarte Kontakte zwischen Haldern und Gabriel geben soll, ist der Wunsch vom Auftritt des Sängers im Ort bislang ein Traum geblieben.
Immerhin hat es Richard Mcphail schon nach Haldern geschafft. Der war über Jahre so etwas wie das sechste Mitglied der britischen Rockband und seit der gemeinsamen Schulzeit auf der edlen Charterhouse School mit dabei. Er kochte für die Band, besorgte den Van für die Auftritte, war eine Art Tourmanager und soll sogar kurz als Nachfolger von Peter Gabriel im Gespräch gewesen sein, als dieser Mitte der 70er-Jahre bei Genesis ausstieg.
Mcphail war auch der Erste, der „Supper’s Ready“hören durfte. Er kam gerade vom Einkaufen zurück, als die Band das Lied probte. „Als ich den Song hörte, hatte ich Tränen in den Augen“, erzählt er über das Stück, das heute vermutlich keine Chance mehr beim breiten Publikum hätte, wie Mcphail lachend ergänzt: „Wer hat denn heute schon noch Zeit, sich einen Song von mehr als 20 Minuten anzuhören?“
„Supper’s Ready“ist bis heute der Song-Monolith der 70er, an dem sich Kritiker und Fans noch mit Begeisterung abarbeiten. Genesis reservierten für ihn fast eine ganze Seite der Langspielplatte „Foxtrot“. Wer wissen will, was Progressive Rock ist, muss diesen Song gehört haben. Fans werden sagen: ein Meisterwerk aus einem Guss. Kritiker nennen „Supper’s Ready“eine Aneinanderreihung halbgarer Ideen, die für eigene Titel nicht taugten. Doch gerade das macht die Magie von „Supper’s Ready“aus. Es sind eigentlich viele kleine Songs in einem großen. Man kann auch wahlweise mittendrin ein- oder aussteigen, ohne dass es wehtut.
Worum es eigentlich in dem Lied geht, darüber wird bis heute gerätselt. „Keine Ahnung“, lautete regelmäßig die Antwort von Phil Collins, der das Stück nach dem Ausstieg Gabriels sang. Es soll wohl um eine
Art außernatürliche Erfahrung gehen, die Gabriel mit seiner damaligen Frau Jill hatte. Wer sich an den ganzen Brocken nicht herantraut, sollte vielleicht erst die Version von Ray Wilson antesten. Der kurzzeitige Genesis-Sänger hat die ersten drei Minuten ausgekoppelt, zu einem Singer-Songwriter-Stück gemacht und immer noch in seinem Live-Programm. Wem dieser Appetithappen schmeckt, der kann sich an dem ganzen musikalischen Abendbrot versuchen.
„Supper’s Ready“treibt das Surreale, das Genesis in den 70er-Jahren ausmacht, auf die Spitze. Wenn die Brüder Grimm die Meister der Märchen sind, dann sind Genesis die Gebrüder Grimm der Rockwelt. Niemand erzählte seltsamere schaurig-schöne Rockmärchen als Peter Gabriel: von skrupellosen Vermietern, die die Größe der Menschen auf 1,20 Meter begrenzen wollen, damit mehr von ihnen in ein Haus passen („Get ’em out by Friday“), vom Riesenbärenklau, der die ganze Welt verschlingt („Return of the Giant Hogweed“), Rasenmähern („I know what I like“) und Kricket mit Kinderköpfen („Musical Box“).
Gabriel inszenierte die Songs als Erzählkino, verkleidet als Fuchs, Kriegerin oder Gummimonster. Zwischen den Stücken erzählte er lange, skurrile Geschichten, weil die Band ihre zwölfsaitigen Gitarren stimmen musste. Genesis gehörten schnell zu den gefragtesten Live-Bands. Denn es hatte sich herumgesprochen, dass ihre Konzerte ganz großes Rockmärchen-Theater waren. Während Led Zeppelin oder Deep Purple breitbeinig und mit tief hängenden Gitarren auf der Bühne standen, saßen die Musiker bei Genesis artig auf ihren Stühlen, während Peter Gabriel seine Verkleidungen wechselte und beim Song „Supper’s Ready“auch mal durch die Luft flog. Mit ihren Konzerten erweckten Genesis die vertrackten Fantasiewelten musikalisch und visuell effektvoll zum Leben.
Da ist es geradezu eine Ironie, dass es ausgerechnet ein Liebeslied mit einem mehr als banalen Text war, das Genesis‘ größter Hit der 70er-Jahre wurde. Mit „Follow you, follow me“begann der unaufhaltsame Aufstieg der Band zu absoluten Megastars, die ganze Stadien füllten. Gabriel war da längst ausgestiegen. Viele Fans der ersten
Stunde waren nicht mehr länger bereit zu folgen. Auch in Haldern verloren viele das Interesse an Genesis. Stattdessen geht das Warten auf Peter Gabriel weiter.
Und wer weiß, wie sich die Musikwelt entwickelt hätte, wenn das unglaublichste Tauschgeschäft der Rockgeschichte tatsächlich geklappt hätte. Brian May wollte nämlich Phil Collins als Schlagzeuger von Genesis zu Queen holen. Im Gegenzug war Peter Gabriel an Roger Taylor von Queen interessiert. Aus dem Deal wurde am Ende bekanntermaßen nichts – schade eigentlich. Denn so wird nie die Frage beantwortet werden, ob Phil Collins nach dem Tod von Freddie Mercury auch bei Queen ans Mikrofon getreten wäre. Eine irre Vorstellung. Und genug Stoff für ein weiteres Rockmärchen.