Wo die alten Tomaten-Sorten wachsen
Helmut Gotthardt aus Schwalmtal-Schier ist Tomatenflüsterer: Er verkauft auch alte Apfel- und Birnbaum-Sorten.
SCHWALMTAL Prinz Sachsen von Coburg hat es erwischt. Er hat den nächtlichen Frost nicht überstanden und lässt schlaff die Blätter hängen. Seine Nachbarn Green Zebra, Tigerella, Zapotec, Ananas und russischer Ochse klingen nicht nur exotisch, sondern sie sind es auch. Hinter diesen Namen finden sich internationale und alte Tomaten-Sorten, die alle im Gewächshaus von Helmut Gotthardt (79) aus Schwalmtal-Schier stehen.
Gotthardt ist, gemeinsam mit seiner Frau Hedi, als Tomatenflüsterer bekannt: Auf seinem Grundstück gedeihen zurzeit „zwischen 35 und 40 unterschiedliche Tomaten-Sorten“, sagt der Biobauer im tomatenroten Pullover stolz. Sorten, die man nicht beim Discounter oder im Supermarkt erhalten könne. Um die roten Früchte kümmert sich der Rentner mit großer Leidenschaft: „Sie brauchen viel Aufmerksamkeit, sind zurzeit wegen des Nachtfrosts besonders sensibel“, erklärt Helmut Gotthardt. Nicht immer geht das ohne Verluste. Wie ein Blick auf Prinz Sachsen von Coburg zeigt: „Ihn hat es heute Nacht wohl erwischt“, meint der Schwalmtaler. Das komme schon mal vor.
Jede der Tomaten-Sorten brauche eine andere Art der Zuwendung, müsse unterschiedlich oft gegossen oder umgetopft werden. Durch das Piktieren (mehrfaches Umtopfen) könne man erreichen, dass das Wurzelwerk besonders kräftig werde. Einige Sorten, wie die Datteltomate oder Ananas, sind aktuell noch zarte Pflänzchen mit nur wenigen grünen Blättchen, die unter einer Wärmelampe stehen. Bis die ersten Tomaten beim Ehepaar Gotthardt reif sind, wird es noch einige Wochen dauern: „Ende Mai, Anfang Juni“, rechnet der Biobauer mit den ersten Früchtchen. Vorher können Tomatenfreunde bei ihm gezogene Pflanzen für den eigenen Gemüsegarten erwerben.
Immer mehr Menschen interessieren sich für die Herkunft der Nahrungsmittel, die sie essen, setzen auf regionale und auch ökologisch angebaute Produkte. Diese Nische hat das Ehepaar Gotthardt 1986 für sich entdeckt. Damals gab der Hephata-Mitarbeiter seinen Job auf, setzte auf Öko-Landbau. „Ich bin auf einem konventionellen Bauernhof in Amern groß geworden“, erzählt der 79-Jährige. Die Entscheidung für die Landwirtschaft sei eine Bauch-Sache gewesen. Zunächst arbeitete er mit einer Biolandwirtin in Arsbeck zusammen, war auf dem Wochenmarkt in Mönchengladbach zu finden. „Die Anfänge waren katastrophal. Wir haben sehr viel selbst gegessen“, erzählt Gotthardt. Doch das Auftreten von BSE und Hühnerpest
habe für einen Bewusstseinswechsel bei einigen Konsumenten gesorgt: Biologisch angebautes Obst und Gemüse rückte mehr in den Fokus, etablierte sich, „obwohl wir beim Tomaten-Kilo-Preis von fünf Euro nie mit Discountern konkurrieren können“, sagt der Schwalmtaler.
Wer ihn heute auf einem Markt treffen will, muss in die dortige Fußgängerzone gehen, ein Mal pro Woche, von 15 bis 18 Uhr, ist Helmut Gotthardt dort mit seinen Produkten anzutreffen. „Es läuft sehr gut“, sagt der Rentner. Von Kollegen biete er zudem Milch aus der Flasche sowie Käse an; zu Weihnachten verkauft er Fleisch vom Bio-Rind, das der örtliche Metzger zerlege. Dafür hat er bereits jetzt Vorbestellungen.
Einen typischen Hofladen in Rieth 10 unterhält er nicht: „Meine Kunden kommen vorbei und kaufen das, was da ist. Oder ich rufe sie an“, beschreibt er sein familiäres Geschäftsmodell. Wer an seinem Briefkasten vorbei am Gewächshaus zum Wintergarten geht, Labrador Kira oder die Katze streichelt, bekommt einen Kaffee und erfährt mehr darüber, was bei Helmut
Gotthardt gerade wächst und frisch ist. Neben Obst und Gemüse verkauft er auch alte Sorten von Apfel- und Birnbäumen. Auch daran steige das Interesse. „Am Morgen habe ich erst einen ,Kaiser-Wilhelm’ verkauft“erzählt der Schwalmtaler. Alte Sorten seien schwer zu kriegen, er selbst nutzt dafür Kontakte zu einer Baumschule in Kassel.
Viele seiner seltenen Tomatenpflanzen hat Helmut Gotthardt etwa durch Tausch oder über Kontakte erhalten. Etwa die geriffelte Zapotec-Tomate, eine alte Sorte der Indianer. „Ein Freund hat mir aus Mexiko
Samen mitgebracht“, erinnert sich Helmut Gotthardt. Inzwischen wachsen diese Pflanzen auch in seinem Gewächshaus heran. Ebenso wie die alte Sorte „Russicher Ochse“: Tomaten dieser Art können bis zu 500 Gramm schwer werden. Nicht nur ihr Gewicht ist erstaunlich, auch ihr Geschmack: „Sie sind sehr süß und aromatisch“, sagt der Biobauer.
Die Frage nach seiner Lieblingssorte unter dem Tomaten kann der Schwalmtaler längst nicht mehr beantworten: „Sie schmecken alle, am besten frisch gepflückt. Mehr braucht man nicht.“