Rheinische Post Viersen

„Brasilien versinkt im Corona-Chaos“

Dea Jachtmann, die in Brüggen-Bracht lebt, ist ihrer alten Heimat Brasilien eng verbunden. Jetzt muss sie mit ansehen, wie die Corona-Pandemie für ihr Land zur Katastroph­e wird.

- VON WOLFGANG JACHTMANN

Meine Frau Dea liest jeden Abend nach dem Zubettgehe­n via Facebook und Instagram die neuesten Mitteilung­en ihrer Freunde in Brasilien. Wie immer in den letzten Wochen ist sie auch heute nach kurzer Zeit tief betroffen, denn sie musste erfahren, dass es wieder zu einer Katastroph­e in einer befreundet­en Familie gekommen ist. Ricardo, der jüngste Sohn einer alten Schulfreun­din aus ihrer Heimatstad­t Ourinhos ist gestorben. Sie reicht mir ihr Handy und ich blicke in das lächelnde Gesicht eines vor Kraft strotzende­n jungen Brasiliane­rs. Das Nächste, was ich beim Scrollen auf seiner Facebook-Seite sehe, ist ein kurzes Video, in welchem er mit seinem einjährige­n Sohn im Garten spielt. Der Film ist keine drei Wochen alt, und jetzt ist der lebenslust­ige junge Vater tot. Gestorben wie aus dem Nichts, ohne Vorzeichen und ohne Chance. Gestorben an Corona. Alicia, seine Witwe, hat es kurz und knapp mit der Bitte um ein Gebet unter sein Foto geschriebe­n.

Obwohl meine Frau seit mehr als 30 Jahren in Deutschlan­d lebt, pflegt sie über die sozialen Medien innige Kontakte zu ihrer Familie, ihren Freunden und Bekannten in der alten Heimat. Früher war diese tägliche Korrespond­enz für sie ein wohltuende­s Ritual. In den letzten Monaten jedoch wurden die eintreffen­den Nachrichte­n zunehmend zur Qual. Sie nimmt mir sichtlich erschütter­t ihr Handy ab, und schreibt wieder einmal einige Zeilen des Mitgefühls sowohl an die junge Frau, als auch an ihre alte Schulfreun­din.

Kürzlich erst starb die Ehefrau eines befreundet­en Tankstelle­nbesitzers, zuvor erfuhr sie vom Corona-Tod gleich drei bekannter Mediziner aus ihrer Heimatstad­t. Mit allen Dreien ist sie aufgewachs­en, und alle Drei haben sie ihr Leben binnen weniger Tage verloren. Nelson, ein früherer Spielkamer­ad und Cousin ihres besten Freundes Coelho, hat es auch nicht geschafft. Ihre Cousine Cristina und deren Familie haben die akute Phase der Erkrankung zwar überlebt, ob sie die Folgen der Infektion überwinden können, ist jedoch ungewiss. Zur gleichen Zeit haben eine ehemalige Nachbarin und deren Sohn den Kampf gegen das Virus verloren und dabei die schwer körperbehi­nderte Schwester des jungen Mannes hinterlass­en. Meine Frau nimmt Anteil an all diesen Schicksale­n und die Machtlosig­keit und Trauer zehren an ihren Kräften.

Dabei ist die Stadt Ourinhos im brasiliani­schen Bundesstaa­t Sao Paulo mitnichten ein Dritte-WeltOrt.

Sie ist mit 113.000 Einwohnern etwa halb so groß wie Krefeld und besitzt eine vergleichb­are allgemeine und medizinisc­he Infrastruk­tur. So verfügt Ourinhos unter anderem über eine bestens ausgestatt­ete Klinik der Maximalver­sorgung mit einer 19 Betten-Intensivst­ation. Normalerwe­ise reicht das aus, aber jetzt, in der Pandemie, ist sie seit Monaten überlastet. Der Bürgermeis­ter hatte Anfang des Jahres in Windeseile ein Behelfskra­nkenhaus mit 31 Intensivbe­tten einrichten lassen, aber auch dessen Kapazitäte­n waren binnen weniger Tage erschöpft. Seither können hochakute Corona-Fälle nicht mehr behandelt werden. Man transporti­ert sie, wenn eben möglich, nach Asis, einer 75 Kilometer entfernten Großstadt, in der es auch nicht besser aussieht. Vor zwei Tagen nun gab die Klinikleit­ung bekannt, dass sämtliche Medikament­e und auch der lebensnotw­endige Sauerstoff aufgebrauc­ht seien. Vielleicht kreist deshalb auch dieses anrührende Video im Netz, in dem eine Internisti­n für die Sterbenden mangels therapeuti­scher Möglichkei­ten ein Lied auf der Gitarre spielt.

Wen wundert es da, dass der Facebook-Aufruf der jungen Elisa zum Gebet um einen Intensivpl­atz für ihren Ehemann Pedro mehr als 1500 Mal geliked und geteilt wurde. Auch für die 41-jährige Lehrerin Tatjana und ihre Mutter sowie für den 45-jährigen Robson und seinen Bruder Rudolfo (33) wurde sicher hundertfac­h gebetet. Umsonst, denn alle Vier sind qualvoll gestorben.

Das gläubige Ourinhos betet trotzdem weiter, denn wie es in Anbetracht steigender Infektions­zahlen in dieser Stadt weitergehe­n soll, scheint tatsächlic­h nur der liebe Gott zu wissen. Auch im übrigen Brasilien nimmt die Zahl der Corona-Erkrankung­en und der damit verbundene­n Todesfälle rapide zu. Makabrer Höhepunkt war vor wenigen Tagen das Interview mit dem Präsidente­n des nationalen Verbandes der Bestatter in der Zeitung „O Globo“. Darin beklagte er, dass die Zahl von zusätzlich­en 5000 Corona-Toten pro Tag die Leistungsf­ähigkeit der Unternehme­n seiner Branche überforder­e, und daher keine würdevolle Beerdigung mehr möglich sei.

Auch die lebensnotw­endigen Bereiche haben ihr Limit überschrit­ten. So meldete das Hospital Israelita Albert Einstein, eine Klinik der medizinisc­hen und wissenscha­ftlichen Superlativ­e in der 11-Millionen-Metropole Sao Paulo, vor wenigen Tagen „Rien ne va plus!“. Im verzweifel­ten Ringen um die Versorgung der Schwerstkr­anken und Sterbenden vor ihren Türen versucht die Krankenhau­sleitung, mit einem Behelfslaz­arett und 60 Intensivbe­tten der Situation Herr zu werden. Zu allem Überfluss fehlen landesweit aber nicht nur die Therapiepl­ätze. Die Organisati­on „Ärzte ohne Grenzen“verzeichne­te für Brasilien bereits im September vergangene­n Jahres eine corona-bedingte Sterberate von durchschni­ttlich 100 Krankensch­western und Pflegern pro Monat. Ein tragischer Verlust, der sich überall in dem riesigen Subkontine­nt bemerkbar macht.

Präsident Jair Bolsonaro scheint dies allerdings bis heute wenig zu berühren. Im Gegenteil. Als der Biologe Lucas Ferrante in der Region Manaus am Amazonas bereits im Herbst 2020 die weitaus gefährlich­ere P1-Variation des Virus, also die sogenannte brasiliani­sche Mutante, entdeckte und zudem Präsident Bolsonaro für den Verlauf der Pandemie verantwort­lich machte, erkundigte sich die Regierung umgehend nach seinen persönlich­en Daten. Dann wurde es für den jungen Forscher gefährlich.

Darüber hinaus ignorierte die regierungs­freundlich­e Lokalpolit­ik seine dringenden Empfehlung­en zu einem strengen Lockdown bis heute, und ließ sogar die Impfkampag­ne wegen fehlendem Impfstoff bis auf Weiteres stoppen. Jedoch nicht ohne sich vorher selbst am Impfstoff bedient zu haben, wie Ferrante erfahren haben will. Mittlerwei­le ist die Lage eskaliert, sodass die Stadt Manaus wegen der hohen Zahl an Corona-Erkrankung­en die deutsche Bundesregi­erung um Hilfe anfragte. Zur Unterstütz­ung lieferte diese dann Ende vergangene­n Monats 80 Atemgeräte nach Manaus. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Apropos Deutschlan­d. Für die weitaus meisten Brasiliane­r, selbst für die ungebildet­en Schichten, ist Deutschlan­d mit seinen Menschen ein liebenswür­diges, ja sogar ein erstrebens­wertes Vorbild. Das war schon immer so. Und daran hat auch die denkwürdig­e Niederlage im Halbfinale der Fußball-Weltmeiste­rschaft 2014 nichts geändert.

So fragen interessie­rte Brasiliane­r jeden Abend meine Frau, wie es hier in Deutschlan­d in der Pandemie so läuft. Wenn sie dann berichtet, dass sich Deutschlan­d, anders als Brasilien, epidemiolo­gisch noch nicht im freien Fall befindet, und dass sie als Standortle­iterin eines freien Bildungstr­ägers zumindest online weiterarbe­iten kann, erntet sie regelmäßig Anerkennun­g für das deutsche Gesundheit­ssystem. Aber jedes Mal, wenn sie dieses Lob der sich selbst verloren glaubenden Seelen hört, fühlt sie sich auch wie ein Wanderer zwischen zwei Welten. Wie soll sie diesen verängstig­ten und teilweise hoffnungsl­osen Menschen erklären, dass sich hier eine mächtige Lobby der Ignoranz, der Verharmlos­ung und der Lügen breitmacht. Im Gegensatz zu vielen der sogenannte­n Querdenker sind sie und andere weltoffene Brasiliane­r der Meinung, dass es bei aller Kritik an den dringend notwendige­n Schutzmaßn­ahmen zumindest für den Moment noch eine Chance, ja sogar eine Gnade ist, in unserem Land und nicht im Corona-Alptraum Brasiliens zu leben. Erst gestern verriet sie mir ihre traurige Überzeugun­g, dass ihre Lieblingst­ante „Tia Maria“in Deutschlan­d sicher nicht an dem Virus gestorben wäre.

 ?? FOTO: LOTHAR STRÜCKEN ?? Wolfgang Jachtmann und seine Frau Dea Ferrazoli-Jachtmann machen die Nachrichte­n aus Brasilien zutiefst betroffen. Das Land verzeichne­t eine hohe Sterberate bei Corona-Infizierte­n, unter der auch das medizinisc­he Personal leidert.
FOTO: LOTHAR STRÜCKEN Wolfgang Jachtmann und seine Frau Dea Ferrazoli-Jachtmann machen die Nachrichte­n aus Brasilien zutiefst betroffen. Das Land verzeichne­t eine hohe Sterberate bei Corona-Infizierte­n, unter der auch das medizinisc­he Personal leidert.

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