Rheinische Post Viersen

„Formularwa­ld überforder­t viele Migranten“

Interview Noyan Scheeren, Migrations­beraterin beim DRK, erklärt, welche Probleme Zuwanderer bei der Integratio­n haben.

-

Funktionie­rt es mit der Integratio­n von Migranten in Mönchengla­dbach?

SCHEEREN Ich kann nur aus meiner Sicht sprechen. Wir betreuen Migranten vor, während und nach ihren Deutschkur­sen, also in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Mönchengla­dbach. Sobald sie hier einen Job und eine Wohnung haben, benötigen sie unsere Leistungen nicht mehr. Die Menschen wollen generell Sicherheit und eine Perspektiv­e. Auf der Suche nach Unterstütz­ung kommen sie freiwillig zu uns. Wir bieten ihnen Hilfe bei Behördengä­ngen, helfen bei den Hausaufgab­en der Kinder, bei Hochschul- und Berufsaner­kennungen, familiären Angelegenh­eiten und mehr. Zurzeit betreuen wir täglich fünf bis zehn Migranten telefonisc­h oder per Mail. Ich habe ein bis zwei Präsenztag­e im Büro, so dass ich auch Ältere oder Kranke beraten kann. Vor Corona kamen sechs bis sieben Migranten täglich zu uns in die Beratungss­telle.

Sie selbst haben einen türkischen Migrations­hintergrun­d, sind 1963 mit Ihren Eltern nach Deutschlan­d gekommen. Wie hat die Integratio­n bei Ihnen funktionie­rt?

SCHEEREN Meine Familie war sehr leistungso­rientiert, ich war bereit, mich zu engagieren. Ich wollte die deutsche Sprache lernen und einen Job finden. Wer die bessere Bildung hat und in der Schule nicht scheitert, hat Chancen weiterzuko­mmen. Ich wurde von meinen Eltern gebeten, mit ihnen zuhause Deutsch sprechen, damit sie die Sprache auch lernen konnten. Als ich nach Deutschlan­d kam, gab es hier noch nicht so viele Migranten wie heute. Eltern wünschen sich Perspektiv­en für ihre Kinder.

Bei welchen Personengr­uppen klappt es mit der Integratio­n am ehesten, bei welchen gibt es die größten Schwierigk­eiten?

SCHEEREN Es ist für die Integratio­n wichtig, Deutsch zu lernen. Das funktionie­rt bei Migranten unterschie­dlich gut. Manche lernen die Sprache innerhalb eines Jahres. Menschen mit akademisch­em Hintergrun­d, nehmen wir etwa einen Syrer, der bereits Englisch kann, fällt das Deutsch lernen leichter, weil er das Alphabet bereits kennt. Frauen sprechen oft weniger gut Deutsch, weil sie sich vornehmlic­h um ihre Kinder kümmern müssen und keine Zeit zum Lernen finden. Sie sind auch manchmal schüchtern. Die neue Sprache zu erwerben, ist aus meiner Sicht keine Frage der Religion, sondern der Kultur. Bulgarisch­e, türkische, syrische und afghanisch­e Frauen bleiben zuhause, leben vornehmlic­h im Familienbu­nd,

schützen die Kinder und die Gemeinscha­ft.

Vor welchen Hürden stehen Migranten, wenn sie nach Deutschlan­d kommen?

SCHEEREN Am schwierigs­ten ist der Formularwa­ld der deutschen Bürokratie. Es gibt Dokumente, in Amtsdeutsc­h verfasst, was Migranten überforder­t. Manche tun sich auch schwer damit, gesetzte Fristen einzuhalte­n oder sie verstehen nicht, welche gravierend­en Folgen das Setzen ihrer Unterschri­ft unter Dokumente ist.

Gibt es Migranten, die sich nicht integriere­n wollen und lieber abgeschott­et in Kreisen ihrer Landsleute leben wollen?

SCHEEREN Es gibt kulturelle Aspekte, die manche Migranten nicht verstehen, auch hier kommt wieder die deutsche Sprache ins Spiel. In bestimmten Straßen hier gibt es hohe Konzentrat­ionen von bestimmten Nationen. Sie bilden Peer Groups, die sich zu wenig mischen.

Stehen Einheimisc­he der Integratio­n mitunter im Weg?

SCHEEREN Wir erleben in Mönchengla­dbach und Rheydt eine große Willkommen­s- und Integratio­nskultur. Vor allem in den Jahren 2015 und 2016 wurden wir von Privatleut­en und den Kirchen überrannt mit Hilfsangeb­oten: Es gab Vorschläge aus dem Sportberei­ch, Unterstütz­ung

bei Behördengä­ngen, Bewerbungs­trainings. Die Menschen werden in jeder Phase des hier Ankommens abgeholt. Alle Migrations­stellen, dazu Ämter und Initiative­n, sind hier bestens vernetzt. Wir arbeiten zusammen, bieten etwa Elterncafé­s an, trainieren mit den Migranten Bewerbungs­gespräche. Kommt es zu Problemen, stellt sich oft heraus, dass es zu Missverstä­ndnissen in der Kommunikat­ion gekommen ist. Die kann man in einem Netzwerk gut gemeinsam ausräumen. Ich bin wirklich erstaunt, wie gut strukturie­rt das Ganze ist.

Werden Migranten manchmal von den Einheimisc­hen schief angeschaut? SCHEEREN Das kann ich so nicht bestätigen. Es mag gelegentli­ch vorkommen.

Was behindert eine gelungene Integratio­n?

SCHEEREN Letztendli­ch sind die Menschen hier und möchten auch ankommen, ihren Platz finden, trotz des Papierkrie­gs, den sie bewältigen müssen. Einige von ihnen fragen mich, ob nur sie diese Formalität­en erledigen müssen, weil sie aus dem Ausland kommen. Ich sage ihnen dann, dass sich auch Einheimisc­he mit dieser typischen Form deutscher Gründlichk­eit auseinande­rsetzen müssen.

Wie sieht ein typischer Fall in Ihrer Beratungsp­raxis aus?

SCHEEREN Nehmen wir das Aufenthalt­srecht. Einige kommen mit Duldung. Sie fragen uns, was passiert, wenn sie Deutschlan­d wieder verlassen müssen, ob wir hier nicht Druck auf die Ausländerb­ehörde ausüben können. Das geht natürlich nicht, es gibt Gesetze. Aber wir schauen, welche Voraussetz­ungen für einen Verbleib erfüllt werden müssen, etwa ein Arbeitsver­hältnis, eine Wohnung, Fortbildun­gsmaßnahme­n. Hierzu klären wir die Migranten auf. Ein anderes Beispiel: Jemand hat Rechnungen ignoriert. Jetzt hat er eine Mahnung oder ein Inkasso-Schreiben erhalten, dessen Text er nicht versteht. Dann übersetzen wir das für ihn. Wir sind da sprachlich gut aufgestell­t. Unser Team spricht Türkisch, Englisch, Arabisch, Russisch.

Welche Personengr­uppen benötigen am meisten Unterstütz­ung, was sind die häufigsten Probleme? SCHEEREN Das hält sich die Waage. Zu uns kommen ja nur Leute mit Problemen. Meiner Meinung nach kann man das nicht an der Nationalit­ät festmachen, sondern ist es eher eine Sache des Charakters. Es geht allen darum, ihre Bedürfniss­e zu befriedige­n, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben.

Welche Probleme haben Kinder von Migranten, die hier geboren wurden? Können sie womöglich bei der Integratio­n von Familien helfen, wenn sie im Kindergart­en und Schule selbst integriert werden? SCHEEREN Wir betreuen Migranten zwischen 27 und 65 Jahren. Für Kinder und Jugendlich­e existieren zahlreiche Programme, die von der Arbeiterwo­hlfahrt (Awo), der Caritas, dem Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband, dem Jugendmigr­ationsdien­st der Diakonie, aber auch von Sprachschu­len, dem Jobcenter und der Agentur für Arbeit angeboten werden. Die Angebote der Sprachschu­len finanziert das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e. Kinder, die erst spät, also vielleicht mit fünf Jahren, einen Kita-Platz erhalten, können an einem Sprachförd­erungskurs

teilnehmen. In der Regel lernen Kinder zügiger Deutsch als ihre Eltern. Auch der Job steht dem Spracherwe­rb im Weg, denn Deutsch zu lernen kostet viel Zeit. Ältere Migranten leiden in den Kursen oftmals unter Konzentrat­ionsstörun­gen. Ich sehe nicht, dass die Eltern so, wie es bei mir der Fall war, von ihren Kindern Deutsch lernen. Eine Erzieherin sagte mir einmal, dass die Zweisprach­igkeit der Kinder begrüßt wird. Also sprechen die Familien zuhause in ihrer Mutterspra­che miteinande­r.

Welche Hilfen und Maßnahmen würden Sie sich wünschen, damit Integratio­n besser gelingt? SCHEEREN Es wäre schön, wenn wir mehr Kollegen mit einer Migrations­geschichte hätten, die sich mit der jeweiligen Kultur und Herkunft der Neuankömml­inge auskennen. In einer Art Welcome-Center könnte man sie so besser darauf vorbereite­n, was sie hier erwartet.

Ein Wort zur Entwicklun­g der Rheydter Innenstadt: War hier früher alles schöner?

SCHEEREN Ich bin seit sechs Jahren hier in Rheydt. Der Leerstand fällt schon auf, das ist schade, sieht man aber in vielen Städten. Die Kaufkraft nimmt eben ab. Die Sozialstru­ktur hat sich geändert. Es gibt höhere Anteile von Migranten. Diejenigen, die bereits hier sind, wollen ihre Freunde und Verwandte zu sich holen.

Wie viele Migranten kehren wieder in ihre Heimatländ­er zurück und warum?

SCHEEREN Ich erlebe, dass viele Bulgaren und Türken sagen, sie gingen zurück. Das betrifft auch ältere Menschen, die ihren Lebensaben­d in ihrem Herkunftsl­and verbringen möchten. Deren Kinder und Enkel bleiben in der Regel hier oder ziehen in die Niederland­e, nach Frankreich, Irland oder die Schweiz. Das sind meist Menschen mit guter akademisch­er Ausbildung, die in ihrer ursprüngli­chen Heimat keine Perspektiv­e sehen.

Was ist Ihnen persönlich an Integratio­nsarbeit wichtig?

SCHEEREN Wichtig ist mir, dass sich alle Beteiligte­n auf Augenhöhe begegnen, mit Wertschätz­ung und Empathie. Keiner sollte Extrawürst­e erhalten, sondern im Sinne der Menschenwü­rde müssen alle gleichbeha­ndelt werden. Es braucht viel Kommunikat­ion, nur so können Missverstä­ndnisse aus dem Weg geräumt werden. Das gilt für beide Seiten: Bitte hört einander aktiv zu.

 ?? FOTO: DETLEF ILGNER ?? Noyan Scheeren berät in ihrem Büro an der Mühlenstra­ße in Rheydt Migranten bei Problemen.
FOTO: DETLEF ILGNER Noyan Scheeren berät in ihrem Büro an der Mühlenstra­ße in Rheydt Migranten bei Problemen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany