Rheinische Post Viersen

„Für Erntehelfe­r hängt oft alles an ihrem Job“

Der Projektkoo­rdinator berät Arbeiter aus dem Ausland, die nach NRW kommen, um Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu ernten.

- FOTO: TACK/IMAGO VIKTOR MARINOV FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Pagonakis, wie viel Geld erhält ein Erntehelfe­r auf dem Spargelfel­d oder fürs Erdbeerpfl­ücken? PAGONAKIS Mindestloh­n, also 9,50 Euro, das steht ihnen auf jeden Fall zu. Das Problem ist aber, dass das oft unterlaufe­n wird. Viele Erntehelfe­r machen unbezahlte Überstunde­n, es wird ihnen zu viel Geld für Miete, Verpflegun­g oder Anreise abgezogen. Unter dem Strich bekommen manche zwischen sechs und acht Euro die Stunde – also deutlich weniger als die gesetzlich­e Untergrenz­e.

Welcher Lohn wäre aus Ihrer Sicht für die Erntehelfe­r angemessen? PAGONAKIS Für die Arbeit in den Schlachthö­fen hat die dafür zuständige Gewerkscha­ft jüngst 12,50 Euro gefordert. Auch bei der Ernte arbeiten die Menschen unter vergleichb­ar harten Bedingunge­n. Sie sind viele Stunden in der Sonne, es ist eine harte körperlich­e Arbeit. Da sind auf jeden Fall mehr als 9,50 Euro drin.

Würde sich das dann noch für die Landwirte rentieren? PAGONAKIS Sie werden natürlich sagen, dass es sich nicht rentiert. Aber ist das auch wirklich der Fall? Die Landwirte machen auch große Gewinne mit der Arbeit. Dabei zahlen sie Mindestloh­n und keine Sozialvers­icherungen.

Wie schätzen Sie die Stimmung bei den Arbeitgebe­rn ein? Wollen sie die Arbeitsbed­ingungen verbessern? PAGONAKIS Man muss differenzi­eren. Es gibt Bauern, die sich jedes Jahr freuen auf ihre Mitarbeite­r, die sie gut behandeln und faire Arbeitsbed­ingungen bieten. Gerade für sie ist es besonders bitter, wenn sich andere nicht an die Regeln halten. Sie beschädige­n das Bild der Landwirtsc­haft und verschaffe­n sich einen unfairen Wettbewerb­svorteil. Deswegen muss es auch im Interesse der Landwirte sein, dass alle die Regeln einhalten.

Sie beraten Menschen, die auf deutschen Feldern arbeiten. Was erleben Sie dabei?

PAGONAKIS Die meisten sprechen die Sprache nicht, machen eine Knochenarb­eit und leben teilweise unter schlechten Bedingunge­n. Das ist eine der marginalis­iertesten Arbeitsgru­ppen in Deutschlan­d. Zu uns kommen diejenigen, die wirklich verzweifel­t sind, das sind zum Teil sehr harte Fälle.

Ein Beispiel?

PAGONAKIS Wir erleben immer wieder, dass Menschen in die Obdachlosi­gkeit geraten. Das passiert, wenn der Landwirt sie rauswirft oder die Arbeiter selbst gehen, weil sie es nicht mehr ertragen. An dem Job hängt aber alles. Sie verlieren dann die Unterkunft und haben vielleicht nicht genug Geld für die Rückfahrt.

Wir hatten Fälle, bei denen die Leute hilflos tagelang durch die Gegend geirrt sind, bevor sie zu uns kamen.

Wie wirkt sich Corona auf die Arbeit der Erntehelfe­r aus? PAGONAKIS Uns berichten sie immer wieder von Verstößen. Es gibt die „Arbeitsqua­rantäne“– fünf bis zehn Tage nach Ankunft sollen die Arbeiter demnach auf dem Hof bleiben. Aber manchmal gibt es dort keine Verpflegun­g, und die Menschen müssen natürlich in den Supermarkt. Auch Hygienemaß­nahmen werden zum Teil nicht eingehalte­n, in zahlreiche­n Fällen sammeln die Landwirte die Pässe ein, um Druck und Kontrolle auszuüben. Aber man muss differenzi­eren. Zu uns kommen natürlich die Menschen, die Hilfe brauchen. Es gibt auch Landwirte, die sich korrekt verhalten.

Hat sich bei der Anreise nach Deutschlan­d etwas verändert? PAGONAKIS Im vergangene­n Jahr war die Anreise anders, da hatten wir die Bilder von den vollen Flughäfen in den Heimatländ­ern, es gab die „Luftbrücke“. Dieses Jahr kommen die Menschen über die Straßen,

in kleinen Bussen oder Transporte­rn. Für uns ist das ein Problem: Wir können die Menschen nicht an einem zentralen Ort wie dem Flughafen über ihre Rechte aufklären.

Also war die „Luftbrücke“für die Erntehelfe­r aus Ihrer Sicht eine gute Lösung, trotz der Menschenma­ssen an den Flughäfen? PAGONAKIS Das hatte zumindest eines unserer Grundprobl­eme etwas entschärft: Es ist schwierig, die Menschen zu erreichen. Selbst am Flughafen hatten einige Bauern versucht, das zu verhindern. Jetzt kommen die Arbeiter mit dem Bus direkt an den Hof und sind erst einmal fünf bis zehn Tage in Quarantäne. Sie sind dadurch noch unsichtbar­er geworden.

Erst vor einigen Tagen gab es auch eine gesetzlich­e Änderung: Der Bundestag hat beschlosse­n, dass Erntehelfe­r bis zu 102 Tage ohne Sozialvers­icherung arbeiten können. Davor waren es 70 Tage. Was hat es damit auf sich?

PAGONAKIS Das bedeutet am Ende einfach, dass Menschen ungeschütz­ter und ohne Zugang zur Krankenver­sicherung hier länger arbeiten können. Im vergangene­n Jahr gab es ja einen großen Bedarf an Erntehelfe­rn, viele mussten extra anreisen, damit es genug sind. Man hatte deswegen diesen Zeitraum auf 115 Tage erweitert. Dieses Jahr wollten das Lobbyverbä­nde der Landwirtsc­haft wieder so durchsetze­n – der Kompromiss waren diese 102 Tage. Aber da kann man nicht mehr von einer kurzfristi­gen Beschäftig­ung reden. Außerdem war diese Regelung mal dafür gedacht, dass Studenten und Schüler sich was dazuverdie­nen können. Die Änderung kann man als Versuch deuten, die Lohnkosten niedriger zu halten.

Wie sähe eine faire Arbeit für die Erntehelfe­r aus?

PAGONAKIS Erstens müssten die Menschen krankenver­sichert werden. Die Bundesregi­erung müsste also eigentlich genau das Gegenteil von dem umsetzen, was sie mit der 102-Tage-Regelung macht. Besonders in der Pandemie ist das ganz wichtig. Was passiert, wenn diese Menschen schnell erkranken, wenn sie an Long Covid leiden? Das steht jetzt an vorderster Stelle. Zweitens

muss man auf den Feldern mehr anlasslos kontrollie­ren. Das passiert schon, aber noch nicht oft genug. Nur wenn man in die Höfe geht, kann man sehen, ob die Abstandsre­geln eingehalte­n und Masken getragen werden.

Sie beraten schon lange Erntehelfe­r – was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Spargel oder Erdbeeren kaufen?

PAGONAKIS (schweigt einige Sekunden) Die Arbeit hat mich sehr sensibilis­iert. Ich sehe, was hinter dem Produkt steht, frage mich bei niedrigen Preisen, wie sie zustandeko­mmen. Deswegen kaufe ich häufig mit einem schlechten Gefühl ein. Aber es geht mir nicht darum, uns den Appetit zu verderben. Wir sollten lieber gemeinsam für eine Verbesseru­ng für die Arbeiter kämpfen.

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Erdbeerpfl­ücken ist ein Knochenjob, für den die Arbeiter oft nicht einmal den Mindestloh­n erhalten.

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