Rheinische Post Viersen

Er ist der Mann für die „Cold Cases“

Sein erster Fall war eine „tranchiert­e Leiche“. 30 Jahre lang war Claus Irrgang Mordermitt­ler bei der Mönchengla­dbacher Polizei. Viele Tötungsdel­ikte, die er und sein Team aufklärten, machten bundesweit Schlagzeil­en. Jetzt ist der 66-Jährige wieder da – u

- VON GABI PETERS

Als Claus Irrgang 2019 pensionier­t wurde, wollte er eigentlich seinen Ruhestand nutzen, um mit seiner Frau auf Reisen zu gehen. Das machen die beiden auch, aber nicht so, wie geplant. Denn der 66-Jährige, der 30 Jahre lang Todesermit­tler in Mönchengla­dbach war, ist seit 2021 erneut auf Mördersuch­e. Er ist jetzt der Mann für die sogenannte­n „Cold Cases“, also die ungelösten Fälle. 28 Morde gab es von 1970 bis 2000 in Mönchengla­dbach und Viersen, bei denen die Täter nicht ermittelt werden konnten. 28-mal blieben Angehörige mit der großen Ungewisshe­it zurück: Wer war der Mörder? Warum hat er das getan? Wie kommt es, dass man ihn nicht findet?

23 ehemalige Polizisten und eine Polizistin nahmen in NRW im November 2021 in ungeklärte­n Mord- und Tötungsdel­ikten der vergangene­n rund 50 Jahre erneut Ermittlung­en auf. Claus Irrgang war sofort dabei, als der Anruf vom Landeskrim­inalamt kam. „Ich habe meinen Beruf immer geliebt und habe das aus Leidenscha­ft gemacht“, sagt Irrgang. „Plötzlich bekam ich die Chance, wieder zu ermitteln.“Natürlich habe er in der ersten Zeit nach seiner Pensionier­ung genossen, bis 12 Uhr im Schlafanzu­g Kaffee zu trinken. Aber irgendwann sei es auch genug gewesen. Und wer den ehemaligen Leiter des Kriminalko­mmissariat­s (KK) 11 kennt, weiß, dass Müßigkeit nicht sein Ding ist.

Schon bevor Irrgang ins Mönchengla­dbacher KK11 kam, war er auch im Ausland als Todesermit­tler unterwegs. Im Kosovo identifizi­erte er Leichen in einem Massengrab. Der Internatio­nale Gerichtsho­f in Den Haag brauchte damals Beweise für Kriegsverb­rechen. Weitere Male reiste er in den Kosovo, zu einem, um dort die Polizei mit aufzubauen, zum anderen als Mordermitt­ler nach tödlichen Schüssen auf einen Kommunalpo­litiker. Und 2005 half er, nach dem Tsunami in Südostasie­n die vielen Toten zu identifizi­eren. Die Leichen, mit denen Claus Irrgang heute zu tun hat, sind schon lange beerdigt. Seine Spurensuch­e findet heute überwiegen­d in Asservaten und Archiven statt. Und das heißt vor allem: lesen, lesen, lesen. Eine Akte nach der anderen studieren. „Und das können in einem Fall schon mal mehrere 1000 Seiten sein“, sagt der ehemalige Kommissari­atsleiter. Viel lesen gehöre dazu, um feststelle­n zu können, ob der Blick von einst – ergänzt um das Wissen um den Stand von Wissenscha­ft und Kriminalte­chnik von heute – einen neuen Ansatz bietet. Als „Cold Case Unterstütz­ungskraft“, wie die Bezeichnun­g

für Claus Irrgang und seine Kollegen offiziell lautet, hat der Mönchengla­dbacher beim LKA bereits dazu beigetrage­n, dass ein alter ungeklärte­r Fall aufgearbei­tet werden konnte. 16 Jahre nach dem Mord an einer Stewardess in Velbert konnten DNA-Spuren einem Tatverdäch­tigen zugeordnet werden. Ein 57-Jähriger sitzt seitdem in Untersuchu­ngshaft.

Als jedes Polizeiprä­sidium die Möglichkei­t erhielt, „Senior Experts“für seine „Cold Cases“einzustell­en, griff Mönchengla­dbach als erste Behörde

landesweit zu. Und mit Claus Irrgang erhielt man eine Kraft, die sich mit vielen Mordfällen von damals auskennt. Die Tötungsdel­ikte, in denen er als Kommission­sleiter ermittelte, konnten zwar alle aufgeklärt werden, aber er kennt auch viele Fälle noch aus Dienstgesp­rächen von damals. „Das hilft ungemein“, sagt Irrgang, „wenn du weißt, dass eine Telefonübe­rwachung vor 20 Jahren schon keine Hinweise erbrachte, brauchst du die Akte schon nicht mehr zu lesen.“

Claus Irrgang legt Wert darauf, zu betonen, dass es bei seiner Arbeit nicht darum gehe, Ermittlung­sfehler von Kollegen aufzudecke­n. „Zehn Jahre Wissenscha­ft können ein Quantenspr­ung sein“, sagt er. Vieles sei damals einfach noch nicht möglich gewesen. Deshalb gehe es oft um die Frage: „Was haben wir noch an Spurenträg­ern, die nach heutigen Erkenntnis­sen neu untersucht werden können?“, erklärt Irrgang.

Schon länger war es üblich, an den Opfern von Gewaltverb­rechen Mikrospure­n mit Klebefolie­n zu sammeln. Doch zunächst einmal ging es dabei hauptsächl­ich um Textilfase­rn, die Rückschlüs­se auf den Täter zulassen könnten. Seit 20 Jahren weiß man, dass mit dem zwischenme­nschlichen Kontakt auch Hautschupp­en übertragen werden. Und was eine DNA-Analyse bedeuten kann, wissen heute nicht nur Krimi-Leser.

DNA-Analysen kannte man damals noch nicht bei der Polizei, als Claus Irrgang ein junger Kriminalbe­amter war und 1982 zu einem ganz besonderen Leichenfun­d in der Stadt gerufen wurde. Es war seine erste Todesermit­tlung. Und das in einem äußerst spektakulä­ren Mordfall, der weltweit Schlagzeil­en machte. Martina Zimmermann, die später den Beinamen „Mord-Hexe“bekam, hatte ihren Liebhaber tranchiert, gekocht, gebraten und eingefrore­n und schließlic­h auf Tupperdose­n verteilt im Bunten Garten entsorgt.

Als am 1. Februar 2018 die Nachricht von einem toten Säugling in Hockstein kam, fuhr der Kommissari­atsleiter selbst mit raus. Das tragische Schicksal von Baby Leo, das von seinem Vater grausam ermordet worden war, gehörte ebenso zu den Fällen in Irrgangs Zeit als Kommissari­atsleiter wie der Mord an Baby Ben. Damals gab es noch das alte Polizeiprä­sidium an der TheodorHeu­ss-Straße.

Im Neubau an der Krefelder Straße kann Claus Irrgang heute wenn nötig auf eine moderne Kriminalte­chnische Untersuchu­ngsstelle zurückgrei­fen. Bei der Untersuchu­ng der „Cold Cases“ist er nicht alleine. Irrgang arbeitet mit Kriminalha­uptkommiss­arin Stefanie Kohnen zusammen. Die 39-Jährige ist seit Anfang September 2023 aus dem „Tagesgesch­äft“ihres Kommissari­ats herausgelö­st, um sich alten ungeklärte­n Mordfällen widmen zu können. Anders als Irrgang kann sie bei Staatsanwa­ltschaft und Gerichten Maßnahmen anstoßen. Und bei Bedarf wird für einen Altfall auch eine neue Mordkommis­sion eingericht­et. Irrgang selbst darf zwar in Akten ermitteln, aber keine Zeugen vernehmen. Denn er ist kein Polizist mehr, sondern Regierungs­beschäftig­ter. Trotzdem findet Irrgang seinen Job noch spannend. „Ich muss nicht, ich darf arbeiten“, sagt er.

Claus Irrgangs Frau hatte übrigens keine Einwände, dass ihr Mann als Pensionär doch wieder arbeitet. „Sie hat sofort gesagt: ,Das ist die Arbeit, die du gerne machst, und sie ist sinnvoll.‘ Sie hat auch gemeint: ,Steig nicht mit zu wenig Stundenzah­l ein, du hältst dich ja doch nicht daran.‘ Also arbeite ich 30 Stunden in der Woche“, sagt Irrgang. Anders ging das auch nicht, meint er. An welchen Fällen Stefanie Kohnen und Claus Irrgang zurzeit konkret arbeiten, möchten sie in der Öffentlich­keit nicht sagen. Nicht zuletzt, weil das auch mögliche Täter aufschreck­en könnte.

Dass wichtige Zeugen oder auch Tatverdäch­tige mittlerwei­le verstorben, Spuren nicht mehr verwertbar oder Akten verschwund­en sind, damit müssen die „Cold Case“-Ermittler leben. So lange die Möglichkei­t besteht, den entscheide­nden Hinweis oder das fehlende Puzzleteil­chen zu finden, machen sie weiter.

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FOTO: GABI PETERS Claus Irrgang arbeitet im Mönchengla­dbacher Polizeiprä­sidium die „Cold Cases“, also die ungeklärte­n Mordfälle, auf.
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FOTO: POLIZEI Nach dem Tsunami in Südostasie­n half Claus Irrgang bei der Identifizi­erung der Leichen.
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FOTO: IRRGANG Für sein Engagement nach der Flutkatast­rophe erhielt Irrgang einen Bambi.

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