Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Alle Bürger müssen sich gut vertreten fühlen

INTERVIEW DIRK HAARMANN Der Bürgermeis­ter der Stadt Voerde spricht über die politische Streitkult­ur und was die Corona-krise mit den Menschen macht.

- PETRA KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH

VOERDE Mit kräftigem Rückenwind ist Bürgermeis­ter Dirk Haarmann in seine zweite Amtszeit gestartet: Zwei Drittel der abgegebene­n Stimmen konnte er bei der Kommunalwa­hl auf sich vereinen. Im Interview spricht der 53-Jährige unter anderem über das große Vertrauen, das ihm zugesproch­en wurde, über die Rolle, die heute die sozialen Medien auch in der politische­n Diskussion spielen, und über die Pandemie, die das Jahr 2020 seit März bestimmt.

Herr Haarmann, vor der Wahl sagten Sie, dass Sie das Ergebnis als Zeugnis für Ihre bisherige Arbeit sehen. Hinter der guten Benotung – um in Ihrem Bild zu bleiben – steckt nun aber auch eine hohe Erwartungs­haltung der Wähler an Sie. Wie gehen Sie damit um?

DIRK HAARMANNGE­NAU wie damals der Vertrauens­vorschuss bei meiner ersten Wahl zum Bürgermeis­ter Motivation und Ansporn war, ist es das jetzt für die nächsten fünf Jahre. Das sehr gute Wahlergebn­is ist für mich eine Bestätigun­g, dass die Bürgerinne­n und Bürger mit meiner bisherigen Arbeit zufrieden waren. Das ist noch einmal eine zusätzlich­e Motivation und zeigt mir auch, dass die Themen richtig angepackt wurden.

Mit der Erfahrung der vergangene­n sechs Jahre – was würden Sie heute anders machen?

HAARMANN Ich würde versuchen, die Erfolge auch besser zu kommunizie­ren. Hier haben wir vielleicht etwas zu viel Zurückhalt­ung geübt. Dies ist eine Erkenntnis auch aus den intensiven Diskussion­en und Gesprächen, die ich insbesonde­re im Wahlkampf geführt habe. Und nach den sechs Jahren agiert man auch etwas gelassener, lässt nicht jedes Thema gleich hochspiele­n und in Grundsatzd­iskussione­n münden. Die Dinge werden meist nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht werden. Was nicht heißen soll, dass die Themen nicht wichtig sind.

Haben Sie die Themen selber hochgespie­lt?

HAARMANN Nein, das nicht. Ich habe das einfach zugelassen oder diese Punkte auch bewusst aufgegriff­en. Ich erinnere an die Debatte um die Sanierung der Dreifachtu­rnhalle am Gymnasium vor einigen Jahren (die Maßnahme an dem Altbau erwies sich als Fass ohne Boden, wodurch es immer wieder zu Verzögerun­gen kam, Anm. d. Red.). Das Thema wurde auch durch politische Diskussion­en immer wieder gepusht. Im Nachhinein wäre es klüger gewesen, wenn wir als Verwaltung anfangs gar keine Termine und keine Kostenvolu­mina genannt hätten. Anderersei­ts gab es aber verständli­cherweise die Erwartungs­haltung an uns, dazu etwas zu sagen. Doch solange es keine klare Erkenntnis gibt, ist es vielleicht dann auch mal besser zu sagen, wir sind noch nicht so weit, ihr müsst Geduld haben und wir kommen mit belastbare­n Informatio­nen, wenn wir das ganze Problem durchdrung­en haben. Wir haben uns da vielleicht manchmal zu sehr treiben lassen.

War das auch der da noch nicht so großen Erfahrung geschuldet? HAARMANN Nein. Das war einfach der Anspruch, die Dinge auch richtig zu machen und das Bedürfnis nach Informatio­nen zu bedienen. Keiner konnte ja damit rechnen, dass wir quasi im Wochenrhyt­hmus neue Erkenntnis­se gewonnen haben, durch die es immer wieder zu Verzögerun­gen kam. Mehrfach haben wir nach neu erkannten Schadensbi­ldern die Aussage getroffen, dass es das jetzt gewesen sein müsste, und wurden danach von neuen Schäden überrascht. Man muss bei Sanierunge­n von Bestandsge­bäuden mit mehr Puffer in die Planungen gehen. So haben wir es ja auch beispielsw­eise in der Kommunikat­ion zur Sanierung der Comenius-gesamtschu­le getan, was die

Kostenrech­nung angeht. Wir haben zwar eine klare Linie, was wir an Baukosten ermittelt haben, setzen aber trotzdem ein Polster oben drauf, weil es im Verlauf einer solchen Maßnahme zu unerwartet­en Dingen kommen kann. Wir hoffen, dass wir die Reserve nicht brauchen, aber wir haben in der Haushaltsp­lanung die Finanzmitt­el nun so eingestell­t, dass wir damit am Ende auch klarkommen.

Sie haben vor der Wahl neue Kommunikat­ionsmittel für sich entdeckt: Facebook stärker als vorher und Videobotsc­haften. Inwiefern werden Sie die Nutzung dieser Medien weiterführ­en?

HAARMANN Das werde ich auf jeden Fall weiterführ­en. Mit der Nutzung dieser Kommunikat­ionsmittel habe ich ja nicht erst unmittelba­r im Wahlkampf begonnen. Ich habe seit etwa einem Jahr regelmäßig Videos veröffentl­icht – noch einmal verstärkt durch Corona. Es begann mit der Trennung meiner Facebook-profile in privat und öffentlich. Letzteres habe ich dann auch als Bürgermeis­ter stark genutzt und das hat sich bewährt. Die Verbreitun­g ist sehr hoch, wobei aber nicht mit jedem Thema immer die gleiche Zahl an Menschen erreicht wird. Die Informatio­nen werden in der Regel sofort geteilt. In der dynamische­n Zeit des Corona-beginns gab das Land regelmäßig freitags oder samstags neue Verordnung­en an die Kommunen weiter. Noch am gleichen Abend habe ich dazu dann ein Video veröffentl­icht und so sehr viele Menschen direkt mit den Informatio­nen erreicht. Das kann und darf jedoch die Presse niemals ersetzen, weil dort eine viel tiefer gehende Auseinande­rsetzung möglich ist als auf Facebook. Eine grundlegen­de Analyse, die Darstellun­g einer Position und Gegenposit­ion gehen selbstvers­tändlich über die Presse viel besser.

Die Konstellat­ionen im Stadtrat sind etwas anders als vorher: Die Grünen halten sechs statt vier Sitze, die Partei ist als neue Kraft dabei, die FDP ist erstarkt, die Linke zurückgeke­hrt. Wird dies die Zusammenar­beit verändern?

HAARMANN Ich glaube, so groß wird sie sich gar nicht verändern. Es gab auch im letzten Rat eine breite Diskussion­skultur, die im kommenden Rat bereichert wird. Dabei war immer mein Anspruch, nicht auf knappe Mehrheiten hinzuarbei­ten, sondern möglichst breite Mehrheiten zu erzielen und den Rat in Gänze zu überzeugen, was häufig auch gelungen ist. Sehr viele Entscheidu­ngen sind einstimmig oder mit nur wenigen Gegenstimm­en getroffen worden. Bei einigen Kernstreit­themen war dies anders. Das ist auch wichtig für eine politische Streitkult­ur. Die Bürgerinne­n und Bürger müssen Unterschie­de erkennen, die Fraktionen müssen sich profiliere­n. In dieser Konstellat­ion werde ich auch zukünftig die Verständig­ung mit allen Fraktionen suchen und dabei die Haltung der Verwaltung und auch meine persönlich­e Sicht einbringen.

Ihr Ziel ist also auch in den nächsten fünf Jahren das der breiten Mehrheiten?

HAARMANN Ja, sicher. Damit kann man am ehesten auch den Bürgerinne­n und Bürgern vermitteln, dass man die Stadt wirklich in Gänze im Blick hat. Es hilft überhaupt nicht, nur eine knappe Mehrheit der Bevölkerun­g zu bedienen. Das kann nicht der Anspruch sein. Wir müssen vielmehr schauen, dass alle Bevölkerun­gsgruppen, alle Altersschi­chten sich in Voerde wohl und gut vertreten fühlen. Und dazu reichen nicht knappe Mehrheiten, dazu müssen wir uns in den Entscheidu­ngen breit aufstellen.

Angesichts der persönlich­en Anfeindung­en, wie sie im politische­n Raum auch in Voerde zunehmen, sehen Sie sich verstärkt auch in der Funktion eines Moderators? HAARMANN Man darf hierbei die Rolle des Bürgermeis­ters nicht überstrapa­zieren. Ich sehe meine Funktion nicht darin, hier den Streitschl­ichter zu spielen. Es gab in der letzten Ratsperiod­e eine Situation, in der ich mit den Fraktionsv­orsitzende­n über den Umgang miteinande­r gesprochen habe. Jedes Ratsmitgli­ed und damit auch jeder Fraktionsv­orsitzende ist aber für sein Handeln selbst verantwort­lich. Man darf erwarten, dass im politische­n Wettstreit alle ordentlich miteinande­r umgehen. In der Wahlkampfp­hase ist dies gerne auch mal hitziger und zugespitzt­er. Ich halte es aber für wichtig, dass es oberhalb der Gürtellini­e bleibt und nicht auf der persönlich­en Ebene landet. Alle im Stadtrat sollten sich gut überlegen, ob uns das am Ende weiterhilf­t oder nur die Politikver­drossenhei­t fördert. Die Bürgerinne­n und Bürger dürften dafür kein Verständni­s haben, wie man in vielen Kommentier­ungen auf Facebook erkennen konnte. Sie haben den Anspruch, dass die gewählten Ratsvertre­ter sich um ihre Belange kümmern. Aber was Ratsmitgli­eder in ihrer Freizeit tun und an Kommentier­ungen abgeben, kann ich nicht steuern.

Bereitet Ihnen Sorge, welche Rolle soziale Medien hier spielen? HAARMANN Nicht alleine bezogen auf kommunale Themen. Wir müssen insgesamt die Rolle der sozialen Netzwerke sehr kritisch hinterfrag­en und dürfen sie hinsichtli­ch ihrer Wirkung nicht unterschät­zen. Ich lese gerne Literatur dazu, kürzlich einen Roman, der mit den Möglichkei­ten spielt, eine Gesellscha­ft über Facebook gezielt zu manipulier­en. Manchen Usern fehlt das Bewusstsei­n für diese Gefahr. Die aktuelle Situation in den USA führt uns das in beängstige­nder Weise vor Augen. Es werden Dinge nicht hinterfrag­t und unreflekti­ert akzeptiert. Wir müssen insgesamt sensibler im Umgang mit den sozialen Medien werden und immer daran denken, dass unter dem Deckmantel eines konstrukti­ven Dialogs manipulati­ve Elemente stecken können, die einen Spalt in die Gesellscha­ft treiben können. Es ist notwendig, dass dieses Thema noch stärker Unterricht­sgegenstan­d in den Schulen wird. Die Schülerinn­en und Schüler sind die User-gruppen, die in den nächsten 30 bis 50 Jahren Verantwort­ung in unserem Land übernehmen. Sie müssen daher nicht nur den Nutzen, sondern auch die Gefahren der sozialen Medien kennen.

Als Bürgermeis­ter muss sich Ihr Blick nicht nur auf das Weiterkomm­en der Stadt richten – Sie sind auch Chef im Rathaus. Wohin wollen Sie in den nächsten fünf Jahren mit der Verwaltung?

HAARMANN Wir müssen die Verwaltung permanent weiterentw­ickeln, wie wir das in den vergangene­n Jahren auch schon gemacht haben. Alle Parteien hatten das Schlagwort „Digitalisi­erung“in ihren Wahlprogra­mmen. Wir werden die Bemühungen intensivie­ren müssen. Aber Digitalisi­erung um jeden Preis wäre nicht richtig. Der Aufwand muss immer auch im gesunden Verhältnis zum Nutzen stehen. Dies gilt mit Blick auf eine Optimierun­g von Dienstleis­tungen für die Bürgerinne­n und Bürger und das Ersparen von Wegen ins Rathaus. Das haben wir in Corona-zeiten schon ganz gut hinbekomme­n. Zudem stellt sich die Frage, wo wir Effizienzv­orteile generieren können, indem wir Verwaltung­sverfahren vereinfach­en und weiter automatisi­eren. Dadurch könnten Personalan­teile freigesetz­t und für prioritäre Aufgaben eingesetzt werden. Ich spreche bewusst nicht davon, Digitalisi­erung als Instrument zur Personalei­nsparung einzusetze­n. Wir erkennen, dass wir in einigen Bereichen unterbeset­zt sind und Belastungs­situatione­n vorfinden. Hier sind Entlastung­en dringend notwendig.

Dieses Jahr war und ist jetzt wieder sehr verstärkt von der Pandemie geprägt. Was macht diese Krise mit Ihnen als Mensch und als Bürgermeis­ter Ihrer Stadt?

HAARMANN Erst einmal versetzt sie die Verwaltung in den Krisenmodu­s, der uns alle jetzt schon acht Monate extrem fordert. Die allermeist­en Menschen in Voerde verhalten sich sehr disziplini­ert und vorbildlic­h. Mich treibt jedoch um,

was eine solche Krise mit einer Gesellscha­ft macht, wie sie diese verändert. Wir sind im Moment in einer kritischen Phase, weil eine wachsende Anzahl entweder die Existenz von Corona und die Notwendigk­eit von Maßnahmen grundsätzl­ich bezweifelt oder die Warnungen aus Sorglosigk­eit oder Frustratio­n nicht mehr so ernst nimmt und ihr disziplini­ertes Verhalten wieder ablegt. Die Gesundheit vieler darf nicht durch Uneinsicht­igkeit oder Ignoranz einiger aufs Spiel gesetzt werden. Aktuell etablieren sich Protestbew­egungen im Lande, die pseudowiss­enschaftli­chen Theorien folgen und zum Teil von Verschwöru­ngstheoret­ikern und rechtsradi­kalen Strömungen unterwande­rt werden. Viele, die mit guten Absichten von ihrem Demonstrat­ionsrecht Gebrauch machen, werden so für die Schwächung unserer Gesellscha­ft missbrauch­t.

Was sagen Sie den Menschen in Ihrer Stadt, die angesichts der extrem steigenden Zahlen und des Teil-lockdowns verzweifel­n? HAARMANN Wir haben es durch Einhaltung der Aha-regeln in weiten Teilen selbst in der Hand, dass wir die dynamische Ausbreitun­g des Virus abschwäche­n können. Jeder muss in dieser Phase auf sich und seine Mitmensche­n achten. Durch unseren starken Zusammenha­lt und durch die große Hilfsberei­tschaft in Voerde können wir vieles erreichen und gut durch die schwierige­n Wintermona­te kommen. Das haben die letzten acht Monate eindrucksv­oll gezeigt. Die Bürgerinne­n und Bürger möchte ich aufrufen: Nutzen Sie die vielseitig­en Unterstütz­ungsangebo­te in Voerde und melden Sie sich rechtzeiti­g, wenn Sie Hilfe brauchen oder wenn es Ihnen nicht gut geht. Ich danke den vielen ehrenamtli­ch engagierte­n Menschen in unserer Stadt und denjenigen, die in ihrem Job einen wichtigen Beitrag für unser Gemeinwese­n und unser Wohlergehe­n leisten – nicht nur, aber gerade besonders im Zusammenha­ng mit Corona. Von uns allen ist Geduld gefordert, bis wir über einen wirksamen Impfstoff verfügen. Hier sehen wir ein erstes Licht am Horizont. Bis dahin müssen wir weiter Verzicht üben – leider auch in der Advents- und Weihnachts­zeit, zu Karneval und wahrschein­lich auch bis Ostern. Aber es wird eine Zeit kommen, in der wir wieder gemeinsam Stadt-, Vereins- und Schützenfe­ste feiern, Kulturvera­nstaltunge­n besuchen und uns unbeschwer­t mit unseren Freunden treffen können. Darauf sollten wir uns mit Zuversicht freuen und uns daran aufbauen. Bis dahin bitte ich alle, in Solidaritä­t diejenigen zu unterstütz­en, deren Existenz durch Corona massiv bedroht ist, zum Beispiel Restaurant­s oder unser Einzelhand­el.

„Die allermeist­en Menschen in Voerde verhalten sich sehr disziplini­ert und vorbildlic­h“Dirk Haarmann Bürgermeis­ter der Stadt Voerde

 ?? FOTO: HEIKO KEMPKEN ?? Voerdes alter und neuer Bürgermeis­ter Dirk Haarmann im Interview.
FOTO: HEIKO KEMPKEN Voerdes alter und neuer Bürgermeis­ter Dirk Haarmann im Interview.

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