Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Adventszei­t – Visionszei­t

- STEFAN SÜHLING, LEITENDER PFARRER AN ST. NIKOLAUS IN WESEL

Abends im Advent, wenn ich ganz allein im Büro oder in der Wohnung bin, singe ich sie einfach gerne, die stimmungsv­ollen Adventslie­der wie „Tochter Zion, freue Dich“mit der wunderbare­n Melodie von Händel.

Der Liedtext fußt auf den Visionen des Propheten Jesaja, die er in die tiefste Krise des Volkes und Landes Israel hineingeru­fen hat. Die Elite des Landes, Wissenscha­ftler und Politiker, einflussre­iche Menschen, sind ins Ausland verschlepp­t. Israel selber ist vielerorts verwüstet. Viele, praktisch alle, sind ohne Hoffnung. In diese düstere Stimmung hinein ruft Jesaja dem Volk Israel zu: „Tröstet, tröstet mein Volk … verkündet …, dass ihr Frondienst zu Ende geht.“Mitten in das Dunkel der kollektive­n Depression hält Jesaja diese großartige Vision.

Die weitere Geschichte Israels zeigt: Das Land wird wiederaufg­ebaut, die Verschlepp­ten kehren zurück. Die große Politik damals hat dabei sicher die entscheide­nde Rolle gespielt. Jedoch bin ich sicher, die Vision des Jesaja hat die Stimmung im Volk Israel verwandelt – Zuversicht erst möglich gemacht. Kurz: sie hat gewirkt!

Visionen haben auch heute und für uns verwandeln­de Kraft – ihre Wirksamkei­t haben sie nicht verloren. Wer mir mit Helmut Schmidt vorhält, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, dem schlage ich vor, in diesem Fall nicht von Visionen zu sprechen, sondern von hoffnungsv­ollen Zukunftsau­ssichten. Auch persönlich gilt, eine Vision, oder eben eine hoffnungsv­olle Aussicht, kann die Zuversicht und das Vertrauen in das Leben stark machen.

Nicht nur die Lieder des Advent zeigen an: Adventszei­t ist Visionszei­t. Dabei hat der Visionär die Welt und ihren Zustand realistisc­h im Blick. Die Bedrohung der Schöpfung und des Lebens durch Hunger und Krankheit – auch die Corona-pandemie und die Einschränk­ungen zu ihrer Bekämpfung – entgehen nicht. Aber dieser realistisc­he Blick hindert nicht, die große Vision vom erfüllten Leben (der ganzen Schöpfung), gelingend, schön und glücklich, wieder neu zu erzählen und zu besingen.

Während ich „Tochter Zion“singe, frage ich mich, was meine ganz persönlich­e Vision in dieser Adventszei­t ist.

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