Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Adventszeit – Visionszeit
Abends im Advent, wenn ich ganz allein im Büro oder in der Wohnung bin, singe ich sie einfach gerne, die stimmungsvollen Adventslieder wie „Tochter Zion, freue Dich“mit der wunderbaren Melodie von Händel.
Der Liedtext fußt auf den Visionen des Propheten Jesaja, die er in die tiefste Krise des Volkes und Landes Israel hineingerufen hat. Die Elite des Landes, Wissenschaftler und Politiker, einflussreiche Menschen, sind ins Ausland verschleppt. Israel selber ist vielerorts verwüstet. Viele, praktisch alle, sind ohne Hoffnung. In diese düstere Stimmung hinein ruft Jesaja dem Volk Israel zu: „Tröstet, tröstet mein Volk … verkündet …, dass ihr Frondienst zu Ende geht.“Mitten in das Dunkel der kollektiven Depression hält Jesaja diese großartige Vision.
Die weitere Geschichte Israels zeigt: Das Land wird wiederaufgebaut, die Verschleppten kehren zurück. Die große Politik damals hat dabei sicher die entscheidende Rolle gespielt. Jedoch bin ich sicher, die Vision des Jesaja hat die Stimmung im Volk Israel verwandelt – Zuversicht erst möglich gemacht. Kurz: sie hat gewirkt!
Visionen haben auch heute und für uns verwandelnde Kraft – ihre Wirksamkeit haben sie nicht verloren. Wer mir mit Helmut Schmidt vorhält, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, dem schlage ich vor, in diesem Fall nicht von Visionen zu sprechen, sondern von hoffnungsvollen Zukunftsaussichten. Auch persönlich gilt, eine Vision, oder eben eine hoffnungsvolle Aussicht, kann die Zuversicht und das Vertrauen in das Leben stark machen.
Nicht nur die Lieder des Advent zeigen an: Adventszeit ist Visionszeit. Dabei hat der Visionär die Welt und ihren Zustand realistisch im Blick. Die Bedrohung der Schöpfung und des Lebens durch Hunger und Krankheit – auch die Corona-pandemie und die Einschränkungen zu ihrer Bekämpfung – entgehen nicht. Aber dieser realistische Blick hindert nicht, die große Vision vom erfüllten Leben (der ganzen Schöpfung), gelingend, schön und glücklich, wieder neu zu erzählen und zu besingen.
Während ich „Tochter Zion“singe, frage ich mich, was meine ganz persönliche Vision in dieser Adventszeit ist.