Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
,,Die Weinerlichkeit ist mir fremd"
Was wird aus Weihnachten? Der Superintendent des Kirchenkreises Wesel über süßliche Musik, Gottesdienste, Einsamkeit und neue Solidarität.
Herr Brödenfeld, in diesem Jahr ist das Weihnachtsfest ein ganz besonderer Fixpunkt. Schon Ende Oktober hat die Kanzlerin die härteren Maßnahmen damit begründet, dass man Weihnachten ermöglichen wolle. Überrascht Sie der Stellenwert, den das Fest auf einmal in der Politik einnimmt?
BRÖDENFELD Teilweise schon. Wir sprechen seit einigen Jahren in den beiden großen Kirchen über den Relevanzverlust von Religiösität, der sich ja auch in Zahlen ausdrückt. Manche Feste haben ja auch gar keine Bedeutung mehr, denken Sie etwa an Pfingsten. Aber auch über Ostern wissen nicht mehr alle selbstverständlich Bescheid.
Was ist der Unterschied zu Weihnachten?
BRÖDENFELDWEIHNACHTEN hat eben neben der religiösen auch eine emotionale Komponente. Es ist das Fest der Familie, einer gewissen Traulichkeit, ein bisschen romantisch-verkitscht, aber positiv belegt. Dass die Politik Weihnachten auch als kirchliches Fest retten will, ist also schon überraschend. Ich sehe es aber auch als Chance.
Inwiefern?
BRÖDENFELD Ich will die Situation überhaupt nicht schönreden. Wir nutzen Corona nicht als Instrument, das wäre zynisch gegenüber allen Angehörigen von Kranken oder denjenigen, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Aber die Zeit kann dazu dienen, dass wir uns darauf besinnen, was wirklich wichtig ist. Das müssen wir begreifen und uns etwa fragen: Was bedeutet Weihnachten überhaupt? Haben wir uns in den letzten Jahren nicht eine Sackgasse manövriert, die nur noch auf bestimmte Bilder reduziert ist - nämlich: das Fest der Geschenke, das Fest des guten Essens und der süßlichen Musik?
Was ist denn die zentrale Botschaft an Weihnachten?
BRÖDENFELD Im Weihnachtsevangelium ist sie am besten beschrieben. Da kann man die Ursprungssituation nachlesen. Die Hirten im Stall kamen aus einer grenzenlosen Dunkelheit, sie waren in ihrer Armut und Außenseiterrolle gefangen. Die Botschaft der Engel ist: Habt keine Angst, geht einfach los:
Fürchtet euch nicht! Gott kommt euch im Kind in der Krippe ganz nah und bleibt an eurer Seite. Diese Botschaft steht über allem.
Und die Hirten?
BRÖDENFELD Die Hirten erfahren, dass ihre Situation aufgenommen wird: aus der Dunkelheit ins Licht. Und bei den Hirten verändert sich die eigene Haltung zum Leben, ihre Perspektive auf Zukunft und Hoffnung. Als Kirchen sollten wir in diesem Jahr diese Botschaft senden: Wir kommen aus der Dunkelheit, aus der Ratlosigkeit. Da müssen wir vermitteln: Habt keine Angst, vertraut. Es gibt jemanden, der einen Weg heraus weiß. So können wir Weihnachten neu definieren.
Die Lage ist so ernst, dass der Glaube zurück in die Mitte drängt?
BRÖDENFELD Das haben wir auch im ersten Lockdown im Frühjahr erlebt, als wir keine Gottesdienste mehr feiern konnten. Das gab es nicht einmal zu Kriegszeiten. Da haben wir eine Sehnsucht nach Religiösität erlebt, nach der Gemeinschaft mit den Gläubigen. Und deswegen ist es gut, dass wir mittlerweile Gottesdienste feiern können, dass die Kirchen geöffnet sind – gerade in der Weihnachtszeit. Viele haben ein Bedürfnis nach einer Einordnung.
Aus der Dunkelheit ins Licht, sagen Sie. Das heißt, es gibt, platt gesprochen, ein Licht am Ende des Tunnels.
BRÖDENFELD Ich sehe das schon so. Dass es in kürzester Zeit gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln, ist schon ein Fingerzeig, dass Gott diese Welt nicht aufgibt. Jetzt brauchen wir ein bisschen Geduld. Die Menschen in der Bibel haben teilweise Jahrzehnte in schwierigen Situationen gelebt. Wenn man an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten denkt, die waren 40 Jahre unterwegs.
Wir sind schon in Panik, wenn wir ein paar Wochen nicht in gewohnter Weise einkaufen gehen können, und Masken tragen müssen. Das macht keinen Spaß, hilft aber Menschenleben zu retten.
Das sehen nicht alle so wie Sie. Es gibt die selbsternannten „Querdenker“.
BRÖDENFELD Da tue ich mich sehr schwer mit. Das ist teilweise so widerlich, dass ich da nicht mehr hinschauen möchte. Diese Weinerlichkeit ist mir fremd. Die haben unsere Großeltern nicht gehabt in Kriegszeiten. Aber ein Großteil der Bevölkerung hält sich treu an die Regeln.
In den vergangenen Jahren ist immer wieder von der Vereinzelung der Gesellschaft gesprochen worden. Die Maske ist aber ein Symbol, dass man nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere. Ist da ein neuer solidarischer Geist entstanden?
BRÖDENFELD Auf jeden Fall. Die allermeisten akzeptieren die Maßnahmen, auch wenn sie sie natürlich nicht schön finden. Die gegenläufige Bewegung hätten wir vor zehn Jahren so noch nicht erlebt. Sie ist ein Zeichen, dass sich grundlegend etwas verändert hat. Das hängt mit dem Entstehen populistischer Bewegungen zusammen, die Partikularinteressen über das Gemeinwohl stellen. Da geht es nicht um Solidarität, sondern darum, die eigene Unzufriedenheit auf Kosten anderer auszuleben.
Sie sagten, dass sich viele Menschen nach Gemeinschaft gesehnt hätten. Wie haben Sie in der Kirche das denn erlebt?
BRÖDENFELD Im Frühjahr ging es rasant schnell. Da haben wir viele Rückmeldungen von Gemeindemitgliedern bekommen, in denen auch Ängste kommuniziert wurden. Wir haben auch eine Schicht, die medial gar nicht so angebunden ist über das Internet, die schon in einer gewissen Vereinsamung geblieben ist. Auch die Gemeindekreise sind ja ausgefallen, die sonst noch eine Gemeinschaft bieten.
Vor einigen Wochen hat die Bundesregierung Werbespots veröffentlicht, in denen sich ältere Herren an das Jahr 2020 erinnern und berichten, wie sie während der Pandemie zu Helden wurden, weil sie mit der Tüte Chips auf dem Sofa hingen. Das soll witzig sein, aber für manche ist es ja dann doch nicht einfach, alleine zu Hause zu bleiben, weil da niemand ist.
BRÖDENFELD Richtig. Das Leid der Einsamen darf uns gerade jetzt nicht unberührt lassen.
Wir verlangen diesen Leuten wahnsinnig viel ab, aber das spielt nur selten eine Rolle in den Debatten, oder?
BRÖDENFELD Ich sehe das auch so. Es gibt eben Menschen, die leben alleine, deren Angehörige weiter weg wohnen. Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist das eine furchtbare Zeit. Viele Angebote und Gesprächskreise mussten größtenteils ausfallen. Unsere Mitarbeitenden im Diakonischen Werk haben dies in ihrer Arbeit oft sehr eindrücklich erlebt. Das hatte die Gesellschaft etwas aus dem Blick verloren.
Die Gesellschaft verlässt sich darauf, dass die Kirchen sich schon um diese Leute kümmern werden.
BRÖDENFELD Ja. Es gibt verschiedene Organisationen, die sich kümmern, die Kirchen gehören an vorderer Stelle dazu. Sie haben ihre Verantwortung wahrgenommen. Die Kirchen standen verlässlich an der Seite der Menschen. In vielen Bereichen haben wir uns gefragt, wie wir bei den Menschen sein können, wie wir die Menschen nicht alleine lassen. Daran haben viele sehr hart gearbeitet in den Einrichtungen. Das sind für mich die Helden dieser Zeit.
Ist das Bild vor diesem Hintergrund, das von Kirche oft veröffentlicht wird, ein bisschen ungerecht? Dass die Kirche keine Bedeutung mehr hat?
BRÖDENFELD Ich bin nächstes Jahr seit 30 Jahren im Dienst unserer Kirche, immer noch mit großer Freude und Engagement. Natürlich kenne ich diese Klischees, die teilweise auch selbstverschuldet sind. Man denke an Missbrauchsskandale. Wichtig ist, dass man von der eigenen Arbeit überzeugt ist. Kirche ist mehr als die Zahl der Gottesdienstbesucher.
Weihnachten erinnern wir uns auch an diejenigen, denen es nicht gut geht, Arme, Kranke, Alte, Einsame. Über die Feiertage werden die Maßnahmen erheblich gelockert. Ist es nicht so, dass wir dadurch Schwache gefährden zugunsten derjenigen, die einen großen Familien- und Bekanntenkreis haben?
BRÖDENFELD Das kann passieren, ich habe ähnliche Befürchtungen. Man hat einem gewissen Druck nachgegeben, die Kanzlerin hatte da eine andere Einstellung. Sie ist für mich eine persönliche Heldin in diesen Monaten. Mir wäre auch anderes lieber gewesen. Es ist vermutlich das einzige Weihnachtsfest, das wir so feiern. Aller Voraussicht nach sind wir nächstes Jahr geimpft. Einmal hätte man auf größere Zusammenkünfte verzichten können. Es kann ja niemand kontrollieren, wie viele sich wirklich treffen. Die Zahlen werden wohl im Januar wieder steigen, auch die Todeszahlen.
Wie wird denn nun in den Kirchen Weihnachten gefeiert?
BRÖDENFELD Wir haben seit den Herbstferien unzählige Konzepte entwickelt und wurden dann selber überrascht, als das Infektionsgeschehen wieder so schnell an Fahrt gewonnen hat. Was wir damals entwickelt haben, ist quasi obsolet.
Und nun?
BRÖDENFELD Was ich wahrgenommen habe, ist eine unglaubliche Kreativität. Es gibt Kirchengemeinden, die sagen, wir machen viele kleine Einheiten, 30 Minuten mit 50 Leuten. Statt zwei große Gottesdienste eben fünf, sechs kleinere. Ein Kollege macht etwas draußen mit einer lebenden Krippe, andere planen ökumenisch. Es gibt viele Ideen, die anders sind als sonst, aber wir sind darauf eingerichtet.
Gehen Sie denn davon aus, dass die Leute auch kommen?
BRÖDENFELD Naja, viele haben schon gesagt, dass sie nicht kommen, aus Sicherheitsgründen. Einige werden aber kommen. Kirche ist sichtbar an den Feiertagen, da geht es nicht um große Zahlen. Für mich ist der oberste Gedanke, dass alles sicher ist, sich dort kein Infektionsgeschehen entwickelt.
Was raten Sie Familien, deren Verwandte weiter weg wohnen, die sich nicht besuchen können. Wie können die Nähe herstellen?
BRÖDENFELD Manchmal muss man in alte Schubladen greifen. Ältere freuen sich unglaublich, wenn sie etwas Schriftliches bekommen. Der gute alte Brief oder das Bild, das der Enkel gemalt hat – das trägt überraschend und unvermutet. Aber ich vermute, dass sich mehr Bewegung ergibt an den Feiertagen, als der Situation angemessen ist. Mein Rat ist, auf solche Begegnungen zu verzichten. Einmal. Im nächsten Jahr können wir sehr wahrscheinlich das Weihnachtsfest wieder im vertrauten Rahmen feiern.
Gibt es Möglichkeiten, Einsamen zu helfen?
BRÖDENFELD Sonst machen wir an Weihnachten gemeinsame kleinere Feiern nach dem Gottesdienst, das gibt es in diesem Jahr leider nicht. Das werden wir noch einmal in den Blick nehmen und überlegen, wie wir konkret helfen können.