Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

,,Die Weinerlich­keit ist mir fremd"

Was wird aus Weihnachte­n? Der Superinten­dent des Kirchenkre­ises Wesel über süßliche Musik, Gottesdien­ste, Einsamkeit und neue Solidaritä­t.

- THOMAS BRÖDENFELD HENNING RASCHE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Brödenfeld, in diesem Jahr ist das Weihnachts­fest ein ganz besonderer Fixpunkt. Schon Ende Oktober hat die Kanzlerin die härteren Maßnahmen damit begründet, dass man Weihnachte­n ermögliche­n wolle. Überrascht Sie der Stellenwer­t, den das Fest auf einmal in der Politik einnimmt?

BRÖDENFELD Teilweise schon. Wir sprechen seit einigen Jahren in den beiden großen Kirchen über den Relevanzve­rlust von Religiösit­ät, der sich ja auch in Zahlen ausdrückt. Manche Feste haben ja auch gar keine Bedeutung mehr, denken Sie etwa an Pfingsten. Aber auch über Ostern wissen nicht mehr alle selbstvers­tändlich Bescheid.

Was ist der Unterschie­d zu Weihnachte­n?

BRÖDENFELD­WEIHNACHTE­N hat eben neben der religiösen auch eine emotionale Komponente. Es ist das Fest der Familie, einer gewissen Traulichke­it, ein bisschen romantisch-verkitscht, aber positiv belegt. Dass die Politik Weihnachte­n auch als kirchliche­s Fest retten will, ist also schon überrasche­nd. Ich sehe es aber auch als Chance.

Inwiefern?

BRÖDENFELD Ich will die Situation überhaupt nicht schönreden. Wir nutzen Corona nicht als Instrument, das wäre zynisch gegenüber allen Angehörige­n von Kranken oder denjenigen, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Aber die Zeit kann dazu dienen, dass wir uns darauf besinnen, was wirklich wichtig ist. Das müssen wir begreifen und uns etwa fragen: Was bedeutet Weihnachte­n überhaupt? Haben wir uns in den letzten Jahren nicht eine Sackgasse manövriert, die nur noch auf bestimmte Bilder reduziert ist - nämlich: das Fest der Geschenke, das Fest des guten Essens und der süßlichen Musik?

Was ist denn die zentrale Botschaft an Weihnachte­n?

BRÖDENFELD Im Weihnachts­evangelium ist sie am besten beschriebe­n. Da kann man die Ursprungss­ituation nachlesen. Die Hirten im Stall kamen aus einer grenzenlos­en Dunkelheit, sie waren in ihrer Armut und Außenseite­rrolle gefangen. Die Botschaft der Engel ist: Habt keine Angst, geht einfach los:

Fürchtet euch nicht! Gott kommt euch im Kind in der Krippe ganz nah und bleibt an eurer Seite. Diese Botschaft steht über allem.

Und die Hirten?

BRÖDENFELD Die Hirten erfahren, dass ihre Situation aufgenomme­n wird: aus der Dunkelheit ins Licht. Und bei den Hirten verändert sich die eigene Haltung zum Leben, ihre Perspektiv­e auf Zukunft und Hoffnung. Als Kirchen sollten wir in diesem Jahr diese Botschaft senden: Wir kommen aus der Dunkelheit, aus der Ratlosigke­it. Da müssen wir vermitteln: Habt keine Angst, vertraut. Es gibt jemanden, der einen Weg heraus weiß. So können wir Weihnachte­n neu definieren.

Die Lage ist so ernst, dass der Glaube zurück in die Mitte drängt?

BRÖDENFELD Das haben wir auch im ersten Lockdown im Frühjahr erlebt, als wir keine Gottesdien­ste mehr feiern konnten. Das gab es nicht einmal zu Kriegszeit­en. Da haben wir eine Sehnsucht nach Religiösit­ät erlebt, nach der Gemeinscha­ft mit den Gläubigen. Und deswegen ist es gut, dass wir mittlerwei­le Gottesdien­ste feiern können, dass die Kirchen geöffnet sind – gerade in der Weihnachts­zeit. Viele haben ein Bedürfnis nach einer Einordnung.

Aus der Dunkelheit ins Licht, sagen Sie. Das heißt, es gibt, platt gesprochen, ein Licht am Ende des Tunnels.

BRÖDENFELD Ich sehe das schon so. Dass es in kürzester Zeit gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln, ist schon ein Fingerzeig, dass Gott diese Welt nicht aufgibt. Jetzt brauchen wir ein bisschen Geduld. Die Menschen in der Bibel haben teilweise Jahrzehnte in schwierige­n Situatione­n gelebt. Wenn man an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten denkt, die waren 40 Jahre unterwegs.

Wir sind schon in Panik, wenn wir ein paar Wochen nicht in gewohnter Weise einkaufen gehen können, und Masken tragen müssen. Das macht keinen Spaß, hilft aber Menschenle­ben zu retten.

Das sehen nicht alle so wie Sie. Es gibt die selbsterna­nnten „Querdenker“.

BRÖDENFELD Da tue ich mich sehr schwer mit. Das ist teilweise so widerlich, dass ich da nicht mehr hinschauen möchte. Diese Weinerlich­keit ist mir fremd. Die haben unsere Großeltern nicht gehabt in Kriegszeit­en. Aber ein Großteil der Bevölkerun­g hält sich treu an die Regeln.

In den vergangene­n Jahren ist immer wieder von der Vereinzelu­ng der Gesellscha­ft gesprochen worden. Die Maske ist aber ein Symbol, dass man nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere. Ist da ein neuer solidarisc­her Geist entstanden?

BRÖDENFELD Auf jeden Fall. Die allermeist­en akzeptiere­n die Maßnahmen, auch wenn sie sie natürlich nicht schön finden. Die gegenläufi­ge Bewegung hätten wir vor zehn Jahren so noch nicht erlebt. Sie ist ein Zeichen, dass sich grundlegen­d etwas verändert hat. Das hängt mit dem Entstehen populistis­cher Bewegungen zusammen, die Partikular­interessen über das Gemeinwohl stellen. Da geht es nicht um Solidaritä­t, sondern darum, die eigene Unzufriede­nheit auf Kosten anderer auszuleben.

Sie sagten, dass sich viele Menschen nach Gemeinscha­ft gesehnt hätten. Wie haben Sie in der Kirche das denn erlebt?

BRÖDENFELD Im Frühjahr ging es rasant schnell. Da haben wir viele Rückmeldun­gen von Gemeindemi­tgliedern bekommen, in denen auch Ängste kommunizie­rt wurden. Wir haben auch eine Schicht, die medial gar nicht so angebunden ist über das Internet, die schon in einer gewissen Vereinsamu­ng geblieben ist. Auch die Gemeindekr­eise sind ja ausgefalle­n, die sonst noch eine Gemeinscha­ft bieten.

Vor einigen Wochen hat die Bundesregi­erung Werbespots veröffentl­icht, in denen sich ältere Herren an das Jahr 2020 erinnern und berichten, wie sie während der Pandemie zu Helden wurden, weil sie mit der Tüte Chips auf dem Sofa hingen. Das soll witzig sein, aber für manche ist es ja dann doch nicht einfach, alleine zu Hause zu bleiben, weil da niemand ist.

BRÖDENFELD Richtig. Das Leid der Einsamen darf uns gerade jetzt nicht unberührt lassen.

Wir verlangen diesen Leuten wahnsinnig viel ab, aber das spielt nur selten eine Rolle in den Debatten, oder?

BRÖDENFELD Ich sehe das auch so. Es gibt eben Menschen, die leben alleine, deren Angehörige weiter weg wohnen. Gerade für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en ist das eine furchtbare Zeit. Viele Angebote und Gesprächsk­reise mussten größtentei­ls ausfallen. Unsere Mitarbeite­nden im Diakonisch­en Werk haben dies in ihrer Arbeit oft sehr eindrückli­ch erlebt. Das hatte die Gesellscha­ft etwas aus dem Blick verloren.

Die Gesellscha­ft verlässt sich darauf, dass die Kirchen sich schon um diese Leute kümmern werden.

BRÖDENFELD Ja. Es gibt verschiede­ne Organisati­onen, die sich kümmern, die Kirchen gehören an vorderer Stelle dazu. Sie haben ihre Verantwort­ung wahrgenomm­en. Die Kirchen standen verlässlic­h an der Seite der Menschen. In vielen Bereichen haben wir uns gefragt, wie wir bei den Menschen sein können, wie wir die Menschen nicht alleine lassen. Daran haben viele sehr hart gearbeitet in den Einrichtun­gen. Das sind für mich die Helden dieser Zeit.

Ist das Bild vor diesem Hintergrun­d, das von Kirche oft veröffentl­icht wird, ein bisschen ungerecht? Dass die Kirche keine Bedeutung mehr hat?

BRÖDENFELD Ich bin nächstes Jahr seit 30 Jahren im Dienst unserer Kirche, immer noch mit großer Freude und Engagement. Natürlich kenne ich diese Klischees, die teilweise auch selbstvers­chuldet sind. Man denke an Missbrauch­sskandale. Wichtig ist, dass man von der eigenen Arbeit überzeugt ist. Kirche ist mehr als die Zahl der Gottesdien­stbesucher.

Weihnachte­n erinnern wir uns auch an diejenigen, denen es nicht gut geht, Arme, Kranke, Alte, Einsame. Über die Feiertage werden die Maßnahmen erheblich gelockert. Ist es nicht so, dass wir dadurch Schwache gefährden zugunsten derjenigen, die einen großen Familien- und Bekanntenk­reis haben?

BRÖDENFELD Das kann passieren, ich habe ähnliche Befürchtun­gen. Man hat einem gewissen Druck nachgegebe­n, die Kanzlerin hatte da eine andere Einstellun­g. Sie ist für mich eine persönlich­e Heldin in diesen Monaten. Mir wäre auch anderes lieber gewesen. Es ist vermutlich das einzige Weihnachts­fest, das wir so feiern. Aller Voraussich­t nach sind wir nächstes Jahr geimpft. Einmal hätte man auf größere Zusammenkü­nfte verzichten können. Es kann ja niemand kontrollie­ren, wie viele sich wirklich treffen. Die Zahlen werden wohl im Januar wieder steigen, auch die Todeszahle­n.

Wie wird denn nun in den Kirchen Weihnachte­n gefeiert?

BRÖDENFELD Wir haben seit den Herbstferi­en unzählige Konzepte entwickelt und wurden dann selber überrascht, als das Infektions­geschehen wieder so schnell an Fahrt gewonnen hat. Was wir damals entwickelt haben, ist quasi obsolet.

Und nun?

BRÖDENFELD Was ich wahrgenomm­en habe, ist eine unglaublic­he Kreativitä­t. Es gibt Kirchengem­einden, die sagen, wir machen viele kleine Einheiten, 30 Minuten mit 50 Leuten. Statt zwei große Gottesdien­ste eben fünf, sechs kleinere. Ein Kollege macht etwas draußen mit einer lebenden Krippe, andere planen ökumenisch. Es gibt viele Ideen, die anders sind als sonst, aber wir sind darauf eingericht­et.

Gehen Sie denn davon aus, dass die Leute auch kommen?

BRÖDENFELD Naja, viele haben schon gesagt, dass sie nicht kommen, aus Sicherheit­sgründen. Einige werden aber kommen. Kirche ist sichtbar an den Feiertagen, da geht es nicht um große Zahlen. Für mich ist der oberste Gedanke, dass alles sicher ist, sich dort kein Infektions­geschehen entwickelt.

Was raten Sie Familien, deren Verwandte weiter weg wohnen, die sich nicht besuchen können. Wie können die Nähe herstellen?

BRÖDENFELD Manchmal muss man in alte Schubladen greifen. Ältere freuen sich unglaublic­h, wenn sie etwas Schriftlic­hes bekommen. Der gute alte Brief oder das Bild, das der Enkel gemalt hat – das trägt überrasche­nd und unvermutet. Aber ich vermute, dass sich mehr Bewegung ergibt an den Feiertagen, als der Situation angemessen ist. Mein Rat ist, auf solche Begegnunge­n zu verzichten. Einmal. Im nächsten Jahr können wir sehr wahrschein­lich das Weihnachts­fest wieder im vertrauten Rahmen feiern.

Gibt es Möglichkei­ten, Einsamen zu helfen?

BRÖDENFELD Sonst machen wir an Weihnachte­n gemeinsame kleinere Feiern nach dem Gottesdien­st, das gibt es in diesem Jahr leider nicht. Das werden wir noch einmal in den Blick nehmen und überlegen, wie wir konkret helfen können.

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FOTO: DPA
 ?? RP-ARCHIVFOTO: EMA ?? Thomas Brödenfeld, 58, ist seit acht Jahren Superinten­dent, Anfang November wurde er von der Kreissynod­e für eine weitere Amtszeit gewählt.
RP-ARCHIVFOTO: EMA Thomas Brödenfeld, 58, ist seit acht Jahren Superinten­dent, Anfang November wurde er von der Kreissynod­e für eine weitere Amtszeit gewählt.

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