Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Man kann nicht in der Revolte leben“
PETER SLOTERDIJK Die Ausschreitungen in den USA waren für den Philosophen nicht überraschend. Donald Trump ist für ihn ein Zyniker, der jedes Symbol instrumentalisiert.
Herr Sloterdijk, ist der Sturm auf den Us-kongress eine Zäsur für westliche Demokratien? SLOTERDIJK Eine Zäsur ist es mit Sicherheit nicht. Es ist ein Ereignis, das den Sprung vom Fantastischen ins Berechnete vollzog. Dass es in den USA sehr Washington-feindliche Regungen gibt und aus den einzelnen Staaten Impulse kommen, die die föderale Struktur infrage stellen, wusste man seit Langem. Die politischen Realitäten der USA sind mehr in den Staaten zu Hause als in der Hauptstadt.
Und darin unterscheidet es sich vom föderalen System der Bundesrepublik?
SLOTERDIJK Die Staaten Amerikas sind vor der Nation da gewesen, die meisten wurden ja erst nach und nach in die amerikanische Nation inkludiert. Je weiter diese Staaten im Westen und Süden liegen, desto stärker wird dort das Unabhängigkeitsbedürfnis empfunden. Aus der Sicht des Psychohistorikers ist es alles andere als eine Zufallstatsache, dass die zutiefst anti-politische Trump-bewegung in Florida ihre Hochburg hat. Das ist tiefster Süden, da sind die inneren Plantagen noch in Betrieb, sind die Anschlüsse ans puritanische Amerika des Nordens noch immer nicht vollzogen.
Hat Sie das, was vor und im Kapitol geschah, dennoch überrascht? SLOTERDIJK Das Gegenteil hätte mich überrascht: Wenn Trump ohne putschistische Gesten aus dem Amt gegangen wäre! Was an dem Vorgang auffällt ist, dass die lokalen Autoritäten die Angreifer nicht als ernst zu nehmende Revolutionäre oder Rebellen eingestuft haben, andernfalls hätten sie das Feuer eröffnet. Man hielt das Ganze offenbar für eine große Clownerie. Die Aktivisten haben von einer Begnadigung durch Nicht-ernstnehmen profitiert. Das ist die Pointe: Wären es linke oder schwarze Angreifer gewesen, würde man heute über die Toten und Verwundeten debattieren.
Ist das, was passierte, ein Lernprozess, dass auch in westlichen Ländern die Demokratie nicht mehr als die einzige Form unseres Zusammenlebens angesehen wird? Gibt es plausible Alternativen?
SLOTERDIJK Andere Formen sind für uns nicht realistisch erreichbar. Eine andere Welt ist möglich, gewiss, aber vorerst nur als schlechtere. Man kann nicht in der permanenten Revolte leben! Institutionen setzen langfristig belastbare Strukturen voraus, und solche können von einem unruhigen Mob nicht gestiftet werden. Insofern wird das Wort „Alternative“zumeist völlig falsch verwendet, was im Übrigen auch für die deutsche Partei gilt, die das Wort Alternative im Namen führt. Die Partei hat den Charakter einer Bewegung, sie parasitiert die vorhandenen Institutionen, sie kann bei der Schöpfung brauchbarer Institutionen keine Rolle spielen.
Wie kann man künftig generell mit dem Irrationalen umgehen? Bleibt da nur noch die Abgrenzung oder das Ignorieren?
SLOTERDIJK Ich würde nicht vom Ignorieren sprechen. Man muss Ventilfunktionen einrichten; in jeder Gesellschaft sind bestimmte Ventilsysteme wichtig, um irrationalen Überdruck ablassen zu können. Früher geschah das in religiös motivierten Festen oder im Karneval. Man konnte einen Teil der irrationalen Dimension von Politik in religiöse Codierungen bannen.
Gehört dazu auch der Versuch der Menschen, Gott in einer Form sichtbar zu machen und zum Sprechen zu bringen, wie Sie es in Ihrem neuen Buch formulieren?
SLOTERDIJK Auf jeden Fall. Das Irrationale will ja greifbare Symbole schaffen, in denen es sich manifestiert. So gesehen kann man die Menschheitsgeschichte als eine riesenhafte Summe von Versuchen interpretieren, Ungesagtes in Gesagtes umzuwandeln und Unsichtbarem wahrnehmbare Erscheinungen anzudichten. Die poetische Dimension impliziert die Freiheit, die Frage nach der Existenz des Jenseitigen beiseitelassen zu dürfen. Die Realitätsthese wird von der Poesie absorbiert. Solange gebetet wird, existiert das, was angebetet wird. Und solange Kulte gefeiert werden, sind die Teilnehmer des Kults im Spiel – am oberen Pol als Götter und am unteren als Gläubige.
Hat in diesem Sinne Jesus eine Art Textvorlage für das dichterische Werk der Evangelisten geliefert? SLOTERDIJK Mehr noch. Er hat ein Trainingsprogramm für Menschen bereitgestellt, die glauben möchten, er habe ein nachahmungswürdiges Leben geführt. Die Idee der „imitatio Christi“beruht auf sehr anspruchsvollen Grundentscheidungen: Man sieht einen jungen Mann, der mit circa 34 Jahren aus dem Leben schied, als Herrn, Meister und Vorbild an. Götter sind Trainer, mit denen eine Gruppe von Followern arbeitet, um ihr Leben rituell in Form zu bringen, und die Welt ist voll von solchen Trainingsgruppen.
Wer gläubig ist, steht unter Beobachtung, schreiben Sie...
SLOTERDIJK ...unbedingt. Man trainiert immer unter den Augen des Trainers. Es macht freilich einen Unterschied, ob ich mit Wotan trainiere, mit Buddha oder mit Christus. Aus den Lehren der Meister ergeben sich ganz verschiedene Trainingsprogramme und Konzepte der Beobachtung. Entsprechend unterschiedlich fallen die Bildungsgeschichten der Auszubildenden aus.
Wobei der „Trainer“des Christentums eine väterliche Erscheinung ist. Man darf ihn sogar duzen – wie im „Vaterunser“.
SLOTERDIJK Es ist bemerkenswert, dass das Christentum es fertiggebracht hat, den Gott so zu konzipieren, dass er intim wird und auch das Kleinkind im Menschen anzusprechen versteht – und auf der anderen Seite hoch majestätisch sein kann und zur kosmischen Kompetenz aufsteigt, dem Prädikat „Schöpfer“gemäß. Diese Spannweite zwischen Intimität und Majestät gehört zu den besonderen Leistungen des christlichen Gottesbilds.
Wen sprechen Trainingsprogramme mit der Aussicht auf letztgültige Schlussfolgerungen an?
SLOTERDIJK Vermutlich die eher haltsuchenden Gemüter oder die Menschen in prä-individualistischen Gesellschaftsformen, die zu Bekenntniskulten tendieren.
Wie manche Bevölkerungsgruppen in den USA?
SLOTERDIJK Solche Kulte blühen mehr denn je in den nordamerikanischen Unterschichten und lateinamerikanischen Armutskulturen. Bei ihnen stellen die Bekenntnisse so etwas wie metaphysische Lebensversicherungen dar. Gut versicherten Menschen in Westeuropa sind solche religiösen Ausdrucksformen fremd geworden.
Hatte Trump die Verunsicherten im Blick, als er sich mit einer Bibel in der Hand fotografieren ließ? SLOTERDIJK Ganz sicher. Trump ist ein perfekter Zyniker, der sich darauf versteht, jedes Symbol im Sinne seiner egomanischen Präsentation zu instrumentalisieren. Warum nicht auch eine Bibel? Ganz abgesehen davon, dass sich die Evangelikalen im Weißen Haus seit den Tagen des seligen Billy Graham die Türklinke in die Hand geben.