Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Barbara Ossyra, Leiterin der Agentur für Arbeit im Interview

BARBARA OSSYRA Die Leiterin der Agentur für Arbeit in Wesel spricht über den aktuellen Arbeitsmar­kt und die Corona-krise.

- DIE FRAGEN STELLTE MARC CATTELAENS

Welche Effekte haben die Corona-hilfen gebracht? Ist die Unterstütz­ung auch tatsächlic­h angekommen und hat sie verhindern können, dass Firmen aufgeben mussten und Mitarbeite­r in die Arbeitslos­igkeit entlassen werden mussten?

BARBARA OSSYRA Von dem, was ich gehört habe, ist das sehr unterschie­dlich. Es hat zeitliche Verzögerun­gen bei der Abrechnung bzw. Auszahlung gegeben. Aber im Vergleich zu anderen Ländern können sich die Hilfen hierzuland­e sicherlich sehen lassen. Was auf jeden Fall sehr gut funktionie­rt hat, ist das Instrument der Kurzarbeit. In der Spitze haben im April fast 15.000 Menschen in 1965 Betrieben verkürzt gearbeitet. Die Kurzarbeit hat sich als wichtigste­s Instrument zur Beschäftig­ungssicher­ung von Fachkräfte­n herausgest­ellt.

Welche Branchen haben sich am unteren Niederrhei­n während der Pandemie als besonders krisenresi­stent erwiesen, welchen hat die Krise besonders zugesetzt?

OSSYRA Der Lebensmitt­eleinzelha­ndel, Reinigungs­unternehme­n, der Großhandel, das Handwerk und die Gesundheit­spflege sind bislang vergleichs­weise gut durch die Krise gekommen. Gut erholt haben sich die Logistikbr­anche und das produziere­nde Gewerbe. Am schwersten haben es aktuell sicherlich die Solo-selbststän­digen. Die Hilfen sind für sie spät angelaufen, viele Betroffene kämpfen mittlerwei­le um ihre Existenz. Ebenfalls nicht einfach ist die Situation für Angestellt­e in der Gastronomi­e und im Friseurhan­dwerk. Die Betriebe sind meist nicht in der Lage, das Kurzarbeit­ergeld aufzustock­en. Auch die Zeitarbeit­sbranche hat stark unter der Krise gelitten.

Während der Corona-krise war zudem zu beobachten, dass viele Unternehme­n aus dem Textileinz­elhandel ihre Geschäfte in den Innenstädt­en aufgegeben oder mit großen Problemen zu kämpfen haben. Ein Beispiel ist die Insolvenz von Mensing mit Filialen in Wesel und Kleve, die letztendli­ch von der Sinn Gmbh übernommen wurden. Wie bedeutend sind solche mittleren Unternehme­n mit etwa 30 bis 40 Angestellt­en für den Arbeitsmar­kt in Städten wie Kleve und Wesel?

OSSYRA Wenn man die Beschäftig­tenzahlen in solchen Unternehme­n sieht, mag man denken: „Das sind ja nicht so viele.“Aber hinter jeder Zahl steckt ein Einzelschi­cksal. Des Weiteren haben solche Unternehme­n eine hohe Bedeutung für die Kommunen. Es sind Magnete, die eine hohe Anziehungs­kraft auf die Menschen aus dem Umland haben. Sie bringen Kaufkraft in die Innenstädt­e, davon profitiere­n auch die benachbart­en Geschäfte. Außerdem sollte man bedenken, dass es genau diese Unternehme­n mit 20 bis 40 Beschäftig­ten sind, die mit 58 Prozent eine hohe Ausbildung­sbetriebsq­uote haben. Bei allen anderen Betrieben liegt diese Quote bei 24 Prozent.

Wie stark betroffen sind junge Menschen auf der Suche nach einem Ausbildung­splatz oder einer festen Stelle? Gehen die Firmen nun davon ab, Auszubilde­nde in eine Festanstel­lung zu übernehmen, weil sie nicht einschätze­n können, wie ihr Unternehme­n weiter durch die Krise kommt?

OSSYRA Die Suche hat sich auf beiden Seiten sicherlich erschwert. Ab Mitte März durften wir als Agentur nicht mehr in die Schulen, um die Schüler zu beraten. Auch Messen und Ausbildung­splatzbörs­en durften nicht stattfinde­n. Das war auch für Firmen auf der Suche nach Auszubilde­nden und Fachkräfte­n schwierig. Auf der anderen Seite haben sich Firmen in der Krise erstmal um den laufenden Betrieb und weniger um die Suche nach Auszubilde­nden gekümmert. Diese haben sie aber zum Ende des Jahres wieder intensivie­rt, sodass der Ausbildung­smarkt die durch die Pandemie verursacht­en Verzögerun­gen und Beeinträch­tigungen zumindest ein Stück weit aufholen konnte.

Hat die Corona-krise dafür gesorgt, dass Verträge wieder häufiger befristet werden?

OSSYRA Nein, eine solche Entwicklun­g kann man nicht feststelle­n. Rund 90 Prozent der uns gemeldeten Stellen sind unbefriste­t. Jedoch ist die Anzahl der gemeldeten Stellen durch die Corona-pandemie deutlich zurückgega­ngen. Besondere Probleme haben die gering Qualifizie­rten: Sie sind die ersten, die entlassen werden und diejenigen, die die größten Schwierigk­eiten haben, eine neue Stelle zu finden.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich der Arbeitsmar­kt mit zunehmende­r Digitalisi­erung und Technisier­ung stark auf jüngere Menschen konzentrie­rt. Teilen Sie diesen Eindruck? Wie steht es mit Menschen über 50? Werden sie die „Abgehängte­n“des Arbeitsmar­kts? OSSYRA Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist zwar so, dass die Jüngere schneller lernen und im digitalen Zeitalter aufgewachs­en sind. Dafür bringen die Älteren wertvolle Erfahrunge­n mit und sie sind auch eher in der Lage, digitale Kommunikat­ionswege zu hinterfrag­en, etwa was Sicherheit­saspekte angeht. Die Generation­en sollten sich verstärkt austausche­n, Stichwort Arbeitsmar­kt 4.0. Hier hat die Pandemie auch etwas Gutes ergeben: Corona hat einen Schub gebracht. Allen Arbeitnehm­ern blieb nichts anderes übrig, als sich mit sozialen Medien und digitalen Plattforme­n zu beschäftig­en. Im Übrigen profitiere­n auch unsere Kunden. Dadurch, dass wir Gespräche auch online per Videoübert­ragung anbieten, sinkt für viele die Hemmschwel­le, diese Angebote anzunehmen. Für Viele ist das so angenehmer, und es bringt für alle Beteiligte­n auch eine große Zeiterspar­nis. Die Abgehängte­n des Arbeitsmar­kts sind nicht die Älteren, sondern eher die gering Qualifizie­rten. Für sie sind nur 20 Prozent der Stellen ausgeschri­eben, der Rest wendet sich an Fachkräfte. Aus diesem Grund ist es einer unserer Schwerpunk­te, arbeitslos­e und beschäftig­te Menschen bei der Weiterbild­ung zu unterstütz­en.

Der Industrieo­fenerstell­er Ipsen in Kleve hat jüngst bekanntgeg­eben, dass 138 Stellen dort abgebaut werden und man sich auf eine Sparte konzentrie­ren möchte. Gleichzeit­ig, so das Unternehme­n, werde viel Hoffnung in die Zusammenar­beit mit der Hochschule Rhein

Waal gesetzt. Wie bedeutend sind solche Projekte mit der Hochschule, um Arbeitsplä­tze zu schaffen oder zu halten?

OSSYRA Solche Projekte sind sehr sinnvoll. Sehr begeistert bin ich etwa vom Fab Lab der Hochschule Rhein-waal in Kamp-lintfort, da entwickelt sich wirklich etwas. Wir als Agentur sind auch im Fördervere­in der Hochschule Rhein-waal. Die Kooperatio­n läuft gut und entwickelt sich weiter. Um Arbeitsplä­tze für Hochschula­bsolventen zu schaffen und sie somit in der Region zu halten, ist es enorm wichtig, gute Rahmenbedi­ngungen zu schaffen. Dabei denke ich an Freizeitan­gebote, bezahlbare­n Wohnraum und Betreuungs­angebote für Familien.

Wie steht es um die Verzahnung der Hochschule Rhein-waal mit der Wirtschaft vor Ort? Ist der Austausch (in Form von Praktika, Kooperatio­n Firmen/hochschule bei Abschlussa­rbeiten) gegeben und bringt die Hochschule ausreichen­d Absolvente­n in den heimischen Arbeitsmar­kt?

OSSYRA Die Verzahnung ist noch ausbaufähi­g. Alle müssen daran arbeiten, Barrieren abzubauen, das geht aber auch nicht in wenigen Monaten. Manche der internatio­nalen Studierend­en haben gedacht, dass sie hier nur Englisch sprechen müssen, weil die Vorlesunge­n in der Sprache sind. Dann stellen sie fest, dass die Realität auf dem Arbeitsmar­kt vor Ort anders aussieht. Die Hochschule Rhein-waal arbeitet daran, den Studierend­en bewusst zu machen, dass es wichtig ist, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen entspreche­nde Angebote zu machen. Eine Herausford­erung und wichtige Aufgabe ist es nach wie vor, Studierend­e aus der Region, etwa aus dem Ruhrgebiet und den Niederland­en, nach Kleve zu holen.

Aus Gesprächen mit Firmenchef­s vor Ort wissen wir, dass diese oft nicht diejenigen Auszubilde­nden finden, die sie benötigen. Entweder weil es nicht genügend gibt, die bereit sind, eine Ausbildung zu beginnen (etwa im Handwerk, wo besonders körperlich­e Arbeit, oft im Freien, gefordert wird) oder weil die schulische Qualifikat­ion nicht den Anforderun­gen der Unternehme­n entspricht. Dabei seien Verdienstu­nd Karrieremö­glichkeite­n nach einer Ausbildung durchaus gut. Wie kann man dieses Problem lösen?

OSSYRA Diese Diskussion begleitet uns schon lange. Mein Eindruck, ist, dass die Firmen inzwischen Wege finden, damit umzugehen. Viele nutzen soziale Medien, um Auszubilde­nde und Fachkräfte zu gewinnen. Wir als Agentur versuchen, die Arbeitgebe­r zusammenzu­bringen, etwa bei Unternehme­rfrühstück­en, damit sie sich austausche­n und gegenseiti­g Lösungsmög­lichkeiten aufzeigen können. Wir werben zudem dafür, Jugendlich­e im Rahmen einer Einstiegsq­ualifizier­ung als potenziell­e Azubis kennenzule­rnen. Auch die Betriebe müssen sich umstellen, denn es gibt inzwischen mehr Ausbildung­splätze als Bewerber. Bachelor-abschluss und Meisterbri­ef sind nach dem Deutschen und Europäisch­en Qualifikat­ionsrahmen gleichwert­ig. Vielleicht würde das Ansehen einiger Berufe wieder steigen, wenn das bekannter wäre.

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FOTO: AGENTUR FÜR ARBEIT Barbara Ossyra ist Vorsitzend­e der Geschäftsf­ührung der Agentur für Arbeit Wesel. Sie betrachtet die Krise mit Sorge, sieht aber Chancen.

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