Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Was das Mehrgenerationenhaus auch in der Corona-pandemie alles leistet
Die Einrichtung in Wesel versucht, auch in Corona-zeiten wie üblich zu arbeiten. Obwohl dem Wirken während der Pandemie Grenzen gesetzt sind, bietet das MGH Eltern mit Behinderung eine Perspektive für ein Familienleben.
WESEL Als Jacqueline Dornbusch die Entscheidung traf, ein für sie völlig neues Berufsfeld zu betreten, da konnte sie noch nicht ahnen, was sie gleich zum Start erwarten würde. Seit dem 1. April 2020 ist Dornbusch die Geschäftsführerin des Mehrgenerationenhauses Wesel (MGH), das unter der Trägerschaft des Sozialdienstes katholischer Frauen in Wesel (SKF) steht. Da befand sich Deutschland aufgrund der Corona-pandemie gerade in seinem ersten Lockdown – es gibt wahrlich günstigere Voraussetzungen, um eine völlig neue Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Rund zehn Monate später hat Jacqueline Dornbusch ihre Entscheidung noch nicht bereut. Und das, obwohl die Herausforderungen nicht gerade weniger werden und in ganz Deutschland das öffentliche Leben bereits zum zweiten Mal nahezu komplett zum Erliegen gekommen ist. „Mir gefallen die Werte, die hier vermittelt werden. Die Menschen und deren Entwicklung stehen hier im Mittelpunkt. Diese Vielfalt hat mich gereizt“, sagt Dornbusch.
In der Tat: An Abwechslung mangelt es nicht im MGH. Seit 45 Jahren existiert das Haus, das Eltern, die eine Behinderung aufweisen, die Möglichkeit gibt,„familie zu leben“, wie es Anne Muskatewitz ausdrückt. Sie leitet die Eltern-kind-einrichtung und ist seit 27 Jahren im MGH tätig. Wie komplex die Arbeit dort ist, das beweist schon ein Blick auf die für das MGH tätigen Menschen. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher, Fachkräfte für Hauswirtschaft sowie ehrenamtliche Helfer leisten dort ihren Dienst am Menschen. Insgesamt sind es 120 Mitarbeiter und 80 Ehrenamtliche, die dem MGH in den unterschiedlichsten Bereichen zur Verfügung stehen.
Dass eine solch große Zahl an Personal nötig ist, belegen die Dimensionen und das Angebot des MGH. In der Wohneinrichtung Schepersfeld (Am Birkenfeld) finden 48 Menschen Platz. Zwölf beziehungsweise sechs weitere Plätze gibt es in den Außenwohngruppen in Bislich und am Schepersweg. Das MGH Scherpersfeld verfügt außerdem über eine Tagesstätte, die 45 Kinder regelmäßig besuchen. Eine weitere Kita, die Platz für 55 Kinder bietet, ist jetzt im Hessenviertel eröffnet worden. Der große Hauswirtschaftsbereich sorgt nicht nur für Hygiene und Ordnung, sondern in der Großküche des Hauses auch für etwa 100 Mahlzeiten am Tag. Gleichzeitig betreut das Hauswirtschafts-team auch den Second-hand-laden des MGH.
Darüber hinaus hat der SKF seit Mai 2019 auch die Trägerschaft der ehemaligen Senioren-begegnungsstätte„im Bogen“übernommen und verlegte gleich auch den Hauptsitz des MGH dorthin. Das Haus gegenüber vom Marien-hospital ist, wenn der Lockdown vorbei ist, Treffpunkt für Jung und Alt, bietet eine Schwangerschafts-beratung an und verfügt über ein Café.
Doch zurück zu den Anfängen des Mehrgenerationenhauses, das als „Herberge für gefallene Frauen begann und sich dann zur Mutter-kind-einrichtung weiterentwickelte“, wie Anne Muskatewitz berichtet. Heute sind es längst nicht mehr nur alleinerziehende Mütter, die durch das MGH die Chance auf eine langfristige Perspektive geboten bekommen. Auch ganze Familien oder alleinerziehende Väter sind willkommen. Dass Bewohner aus dem gesamten Bundesgebiet nun im MGH Scherpersfeld zu Hause sind, zeigt, dass Angebote, wie sie in Wesel zu finden sind, durchaus keine Selbstverständlichkeit sind. „In Bayern gibt es beispielsweise keine einzige vergleichbare Einrichtung für Eltern mit Behinderung“, so Muskatewitz.
Und dann erläutert sie, was es braucht, um einen derart großen Komplex zu stemmen. „Ohne ein ausgefeiltes System geht es nicht“, sagt die Heimleiterin. Erfahrung und Kompetenz seitens der Mitarbeiter seien genauso notwendig wie „Einsichtsfähigkeit und eine positive Beziehung zum Kind seitens der Betroffenen.“Als größte Herausforderung bezeichnen die beiden Frauen den „doppelten Auftrag, den wir haben. Wir müssen das Kinderwohl berücksichtigen und gleichzeitig die Beziehung zwischen Mutter/vater und Kind im Auge behalten beziehungsweise versuchen, dieses Verhältnis in die richtige Richtung zu lenken.“
Natürlich stößt auch das Team um Jacqueline Dornbusch, das zum Teil schon seit vielen Jahren im Haus tätig ist, mal an seine Grenzen. „Wir sind die letzte Möglichkeit für beeinträchtigte Menschen, dass sie mit ihren Kindern zusammenleben können. Aber es gibt eben auch Fälle, in denen wir Eltern und Kinder voneinander trennen müssen“, sagt Dorn
busch. Anne Muskatewitz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Mehrgenerationenhaus in Wesel eine weitere Alternative bietet, die ihres Wissens nach weit und breit ein Alleinstellungsmerkmal genießt. „Wir verfügen über eine Kinder-wohngruppe, die ganz speziell Kindern in Trennungs-situationen vorbehalten ist“, sagt sie. „Dort können sie bleiben, bis für sie eine Pflegefamilie mit Perspektive gefunden ist.“
Dass bei all dieser Komplexität die Corona-krise eine ganze besondere Herausforderung darstellt, ist nachvollziehbar. „Da müssen wir viel Aufklärungsarbeit betreiben, denn für uns gelten natürlich die selben Vorgaben wie überall. Wir müssen Besuche einschränken, gesonderte Räume zur Verfügung stellen, Verdachtsfälle separieren und natürlich auch unsere Kita sowie das Café schließen“, so Jacqueline Dornbusch, die auf Schnelltests setzt, um die Arbeit sicherzustellen. Und dass nicht nur, weil es bereits auch schon positive Corona-fälle im MGH gab, was die Aufgabe logischerweise nicht erleichtert. „Wir stoßen auch hinsichtlich des Personals an unsere Grenzen. Bis jetzt haben wir es aber gut hinbekommen“, sagt Dornbusch und lobt vor diesem Hintergrund das engagierte Team und die gute Zusammenarbeit mit dem Vorstand des Sozialdienstes katholischer Frauen.
Für die Geschäftsführerin steht jedoch trotz der großen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, das im Vordergrund, was Anne Muskatewitz in Worte fasst: „Die Jugend- und Behindertenbetreuung bleibt eine spannende Arbeit. Man weiß nie, was als nächstes passiert. Und die positiven Entwicklungen der Kinder, die, auch wenn sie das Haus längst verlassen haben, gerne zu uns zurückkehren, sind eine schöne Bestätigung.“