Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
GELD UND LEBEN Kein Wunder, dass die Kurse hüpfen
Die Börse ist nicht die Wirtschaft. Sie bildet sie nicht einmal besonders gut ab.
Die halbe Welt stöhnt über Lockdown, Pleiten und Wirtschaftskrise, doch die Aktienkurse stürmen weiter aufwärts. Wie kann das sein? Klar, bei Null- und Minuszinsen sind die meisten Alternativen für Anleger nicht attraktiv. Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Mindestens ebenso wichtig: Die Börse ist nicht die Wirtschaft, nein, sie repräsentiert sie noch nicht einmal besonders gut. Der Blick auf 2020 bis 2022 macht das deutlich: Wegen Covid ist die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr in den meisten Ländern eingebrochen. Sie werden wohl das Wachstum der Jahre 2021 und 2022 brauchen, um auf den alten Stand zu kommen. Ganz anders die Gewinne der börsennotierten Unternehmen weltweit: Meistens werden sie schon 2021 die Scharte auswetzen können. Dafür sind vier Effekte verantwortlich: Erstens verdienen viele große Firmen das meiste Geld dort, wo die Rezession längst vorbei ist – in China. Zweitens sind die am stärksten gebeutelten Branchen – Gastronomie, Hotellerie, Reisen und Unterhaltung – kaum an der Börse vertreten. Drittens sortiert die Börse Verlierer konsequent und früh aus. Karstadt, Kaufhof, Metro und Tui sind schon vor Jahren aus dem Dax abgestiegen. Und viertens hat gerade die Covid-krise viele längst vorhandene Trends nur verschärft: Internet-shopping statt Schaufensterbummel, Online-unterhaltung statt
Kino und Homeoffice statt Büroetage. Nicht zu vergessen: Geschäftsreisen, die früher meist teuer und wenig umweltgerecht daherkamen. Billigere Tickets und der Ersatz des Treffens durch Videokonferenzen waren lange vor Corona ein Thema. Einfach gesagt: Die alten Gewinner wie Apple und Amazon, aber auch Alibaba und Tencent waren in der Covid-krise schon wieder die Gewinner. Und das nicht in der Fantasie der Börse, sondern bei ihren Kunden. Kein Wunder, dass die Kurse vor Freude hüpfen.
Unser Autor leitet die Vermögensabteilung von HSBC Deutschland in Düsseldorf. Er wechselt sich hier mit Ulrike Neyer und Justus Haucap ab.