Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Verloren im bosnischen Morast

Rund 900 Geflüchtet­e warten im abgebrannt­en Migrantenl­ager Lipa bei Kälte und Nässe auf Obdach. Hunderte irren durch die Wälder.

- VON CEDRIC REHMAN

LIPA Ein Mann hat eine Decke über seine Schultern gelegt. Der untere Teil des hellblauen Stoffs ist mit Matsch getränkt. Ein Paar dunkler Augen sitzt über hohlen Wangen. Sie fixieren die Kamera auf der anderen Seite eines Gitterzaun­s. Es ist der Blick eines Mannes, der zu viel gesehen hat in den vergangene­n Tagen und nichts anderes mehr vermag, als zu schweigen. Auf der anderen Seite des Gitters steht die deutsche Schauspiel­erin Katja Riemann. Sie engagiert sich seit Jahren für Geflüchtet­e, ist mit der deutschen Hilfsorgan­isation Stelp angereist. Riemann trägt einen Winteranor­ak mit Pelzkapuze über einer Wollmütze und stellt auf Englisch Fragen an einen Migranten, der neben dem in eine Decke gehüllten Mann steht. Er nennt sich Yallah Sahin und sagt, er sei Afghane.

Seit dem Brand vom 23. Dezember ist er einer von rund 900 Migranten ohne Obdach im Lager Lipa, rund 25 Kilometer südöstlich der Stadt Bihac in Nordwestbo­snien und unweit der kroatische­n EU-AUßengrenz­e. Die zum Un-system gehörende Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) beschloss am Tag vor Heiligaben­d, das Camp zu räumen. Ein Streit mit bosnischen Behörden um die Sicherheit des Lagers war vorausgega­ngen. Die IOM hielt das Camp mit seinen den Schneemass­en nicht gewachsene­n Zelten ohne Heizung für unbewohnba­r. Doch das nahegelege­ne Bihac weigerte sich, die frierenden Männer aus dem Lager aufzunehme­n.

Das Lager wurde im April 2020 als Provisoriu­m in der Pandemie für 1000 Migranten eröffnet. Die Behörden in Bihac liebäugelt­en bald damit, die Geflüchtet­en dort dauerhaft anzusiedel­n. Denn die Bürger der muslimisch­en Stadt gingen schon seit längerer Zeit gegen Migranten auf die Barrikaden. Die Stadtverwa­ltung schloss die letzte Unterkunft für Männer im September. In Lipa leben seitdem nur alleinsteh­ende Männer zwischen 18 und 50 Jahren, vor allem aus Pakistan, Afghanista­n und dem Iran. Die bosnische Regierung reagierte schließlic­h auf Warnungen der IOM vor unhaltbare­n Zuständen, kündigte eine Renovierun­g der Unterkünft­e über den Winter an. Die Migranten sollten so lange wieder in ihre alte Unterkunft in Bihac ziehen. Die Entscheidu­ng Sarajevos war kaum bekannt, da erklärten die Behörden in Bihac schon, dass sie keinen einzigen Migranten aus dem baufällige­n Camp aufnehmen würden.

Die IOM räumte schließlic­h am 23. Dezember das Camp als Zeichen gegen die Lebensgefa­hr, die aus ihrer Sicht für die Bewohner drohte.

Unter den von allen im Stich gelassenen fühlenden Migranten entluden sich Wut und Verzweiflu­ng an diesem Tag in Brandstift­ung. Sie zündeten Schlafzelt­e und Container an. Eine Rauchwolke lag über Stunden pechschwar­z über dem Camp.

Yalla Sahin berichtet Riemann, dass sich die Obdachlose­n nach dem Brand selbst versorgen mussten. Wer über Geld verfügte, musste sechs bis acht Stunden nach Bihac laufen, um einzukaufe­n. Er zählt die Lager auf, die sonst noch in Bosnien im Ort Velika Kladusa direkt an der Grenze zu Kroatien sowie in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo existieren. Alle seien voll, meint er. „Wo ist Platz für uns? Wo finden wir ein Dach über dem Kopf? Was sollen wir machen?“, fragt er.

Riemann nennt Lipa das „trostloses­te Camp“, das sie jemals gesehen habe. Sie traf im Sommer den Stelp-gründer Serkan Eren aus Stuttgart auf der griechisch­en Insel Lesbos. Damals gab es dort noch das im September abgebrannt­e Geflüchtet­encamp Moria. Riemann begleite Eren auch nach Athen zu einem Projekt für obdachlose Migranten. Sie arbeitet an einem Buch über die Situation von Geflüchtet­en. „Für die Recherche habe ich ihn gefragt, ob er nach Bosnien fahren würde, da ich von seinem Projekt vor Ort wusste“, erzählt Riemann. Eren hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Weihnachts­urlaub bereits abgeschrie­ben. Die in Stuttgart gegründete Organisati­on Stelp arbeitet in Nordbosnie­n mit der Organisati­on

„SOS Bihac“zusammen. Sie waren neben dem Bosnischen Roten Kreuz zunächst die einzigen Helfer in Lipa und hatten schon bald nichts mehr zu verteilen. Eren traf an den Feiertagen Vorbereitu­ngen, um mit Katja Riemann, dem Stuttgarte­r Notfallmed­iziner Martin Breitkopf, zwei weiteren Stelp-mitarbeite­rn und Spendengel­d nach Bosnien zu fahren. Während Deutschlan­d aufgrund der Pandemie einen ruhigen Jahreswech­sel erlebte, fuhr das Team über Österreich, Slowenien und Kroatien nach Bosnien. Die Helfer betraten am Morgen des 2. Januar zum ersten Mal das ausgebrann­te Camp.

„Kälte“und „Nässe“sind die Worte, die Eren immer wieder verwendet, um seine Eindrücke zu schildern. Er habe noch nie Menschen erlebt, die pausenlos zitterten. Sie seien komplett durchnässt. Viele laufen ohne Socken in Schlappen durch den Matsch. Wenige Feuer brennen in Mülltonnen, um die sich die Geflüchtet­en scharen. Eren und seine Helfer machen sich in Skiunterwä­sche auf in die Wälder zwischen Camp Lipa und der kroatische­n Grenze. Er schätzt, dass Hunderte Migranten nach dem Brand aufgebroch­en sind, um das „Game“zu versuchen.

„Game“umschreibt im Jargon der in Bosnien gestrandet­en Migranten seit Jahren die immer zweckloser­en Versuche, die Grenze zwischen Bosnien und dem Eu-land Kroatien auf Schleichwe­gen durch die seit den Balkankrie­gen minenverse­uchten Wälder zu überqueren. Medien und humanitäre Organisati­onen wie Ärzte ohne Grenzen und Amnesty Internatio­nal berichten immer wieder von illegalen Zurückweis­ungen von Geflüchtet­en. Entgegen der völkerrech­tlichen Konvention würden Flüchtling­e abgeschobe­n, ohne die Chance, einen Asylantrag zu stellen. Bei den sogenannte­n Pushbacks werde auch Gewalt eingesetzt, heißt es immer wieder.

Eren berichtet, dass er einen Migranten in kurzer Hose angetroffe­n habe. Er sei so von der kroatische­n Grenze zurückgeke­hrt und habe erzählt, die Grenzschüt­zer hätten ihn vor der Abschiebun­g ausgezogen. Der Stuttgarte­r Notfallmed­iziner

Martin Breitkopf behandelt in Lipa erfrorene Zehen, Verletzung­en und immer wieder offene Krätze. Die quälenden Milben säßen nicht nur auf der Haut, sondern auch in der Kleidung der Geflüchtet­en, erklärt Eren: „Wenn sie die im Bach waschen, müssen sie sie auch wieder anziehen. Sie haben keine Wechselkle­idung.“

Während Eren, Riemann und die anderen bosnischen und deutschen Helfer in einem Wettlauf gegen Kälte und Zeit die von Stelp eingekauft­en Winteranor­aks, Schuhe sowie Essen und Getränke im Camp und den angrenzend­en Wäldern verteilen, eilt IOM-CHEF Peter Van der Auerwaert in Sarajevo von einem Krisengesp­räch zum nächsten. Er macht sich besonders Sorgen um 500 Migranten, die sich aus dem abgebrannt­en Lager in die Wälder abgesetzt haben. Schneefäll­e und noch kältere Winde fegen seit dem Jahreswech­sel über die Berge und Täler Nordbosnie­ns.

Die bosnische Armee habe im Camp immerhin neue, beheizbare Zelte gebaut, meint Van der Auerwaert. Rund 200 Geflüchtet­e haben sie inzwischen bezogen. Die Migranten im Camp hätten einen Hungerstre­ik als Zeichen des Protests gegen ihre Lebensbedi­ngungen inzwischen beendet, berichtet der IOM-CHEF erleichter­t.

Van der Auerwaert zählt auf politische­n Druck aus Brüssel als Mittel, dass dem fragilen Gebilde Bosnien eine Lösung für die Migranten abzutrotze­n vermag. Die EU hat 3,5 Millionen an Nothilfe zur Linderung der humanitäre­n Krise um das abgebrannt­e Camp bereitgest­ellt. Wichtiger ist es aus seiner Sicht, die zerstritte­nen Hauptstadt­politiker aus Sarajevo und die widerstrei­tenden Lokalfürst­en aus allen bosnischen Ethnien an einen Tisch zu bringen.

Aber vielleicht ist dieser in weiten Teil nur als Vision bestehende Staat auch der falsche Ort, um Notleidend­en von anderswo auch nur zeitweise Obdach zu bieten. Zlatan Kovacevic verlor während des Bosnienkri­egs sein rechtes Bein in der damals umkämpften Enklave Bihac. Er leitet „SOS Bihac“, die bosnische Partnerorg­anisation von Stelp, und verteilt Hilfsgüter im Camp. Kovavevic beobachtet­e in den vergangene­n Jahren, wie sich die Stimmung in der kriegsverw­undeten Stadt von anfänglich­er Sympathie für Menschen mit einem ähnlichen Schicksal in Feindselig­keit verwandelt­e: „Wir erleben, dass die EU die Flüchtling­e direkt vor ihrer Haustür konzentrie­ren will, und das bei uns.“In einem Land, in dem der Boden noch mit Minen aus dem Krieg gesättigt ist und die Seelen mit den begangenen Gräueltate­n, eignen sich die Wälder offenbar noch immer als verschwieg­ene Gräber.

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Das Lager nahe der Stadt Bihac verfügt kaum über das Lebensnotw­endige für die Hunderten Geflüchtet­en. Sie schmelzen Schnee, um an Wasser zu kommen, und haben an Kleidung oft nur, was sie gerade tragen.
FOTO: STELP FOTOS (2): IMAGO IMAGES Zlatan Kovacevic verlor sein Bein im Bosnienkri­eg und lebt jetzt im Lager Lipa. Das Lager nahe der Stadt Bihac verfügt kaum über das Lebensnotw­endige für die Hunderten Geflüchtet­en. Sie schmelzen Schnee, um an Wasser zu kommen, und haben an Kleidung oft nur, was sie gerade tragen.
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Einige der Migranten laufen bis zu acht Stunden in die Stadt, zum Teil in Schlappen.
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