Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
In 74 Minuten zur Impfung
Es ist nicht lange her, da war der öffentliche Nahverkehr eine Art Heilsbringer. Wie kommen die Autos von den Straßen, wie wird Mobilität grüner und gesünder? Busse und Bahnen spielten eine zentrale Rolle. Nimm doch mal den Bus – das war ein guter Ratschlag, den man höchstens mit Blick auf Fahrpläne und Verbindungen spöttisch belächelte.
Nun erscheint aber auch das, was noch nicht lange her ist, ewig vergangen. Die Pandemie hat den Blick auf so ziemlich alle Gewissheiten verändert. Und so ist aus den Fahrgemeinschaften in Bussen und Bahnen eine Gemeinschaft für Aerosole geworden. Aus der Chance, Emissionen zu sparen, wurde das Risiko, sich in dicht gedrängten Regionalbahnen, S-bahnen und Bussen mit dem Coronavirus zu infizieren. Diejenigen, die sich ein Auto leisten können, sind zurzeit im Vorteil. Dass Pandemiebekämpfung auch eine Frage des Geldbeutels ist, ist zynisch – aber leider wahr.
In den Briefen, die der Kreis Wesel gerade an die über 80-Jährigen geschickt hat, um über die Impfung zu informieren, wird auch zur Nutzung des Nahverkehrs geraten. „Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen Sie das Impfzentrum vom Bahnhof in Wesel aus mit dem Bus bis zur Haltestelle Niederrheinhalle oder zu Fuß“, schreibt Landrat Ingo Brohl.
Wer in Wertherbruch in Hamminkeln lebt und sich als 87-Jähriger über den Nahverkehr zur Impfung gegen eine für ihn potenziell tödliche Krankheit aufmacht, der ist schon in 74 Minuten an der Niederrheinhalle. Dreimal umsteigen, ein paar Meter zu Fuß, schon ist man da.
Es ist offensichtlich nicht der richtige Baustein, auf Bus und Bahn zu setzen. Dem Anschreiben des Kreises hätten mehr Informationen auch abseits des Taxischeins beiliegen müssen. So dürften viele Senioren auf private Hilfe angewiesen sein. Wenn sie denn welche bekommen.
Henning Rasche
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