Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Das Prinzip Ehrenrunde

Lehrer und Eltern streiten darum, ob das Corona-schuljahr freiwillig oder verpflicht­end wiederholt werden soll. Unter Experten ist das Sitzenblei­ben umstritten.

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DÜSSELDORF (jra) Homeschool­ing, Hybrid-unterricht, dazu Hardund Software-probleme – im Jahr der Pandemie wird das Thema Sitzenblei­ben erbittert diskutiert. Während der Deutsche Lehrerverb­and fordert, dass Schüler freiwillig die Klasse wiederhole­n können, ohne dass sie als „Sitzenblei­ber“gelten, will der Familienve­rband NRW, dass alle das Jahr wiederhole­n. Viele Bildungsfo­rscher sprechen sich seit Jahren gegen das Prinzip „Ehrenrunde“aus. Die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Wie viele Schüler bleiben in Deutschlan­d jährlich sitzen? Die Summe der Sitzenblei­ber wird nicht statistisc­h erfasst – eine Studie zu Klassenwie­derholunge­n im Auftrag der Bertelsman­n-stiftung kam 2009 zu dem Ergebnis, dass in Deutschlan­d 250.000 von insgesamt mehr als neun Millionen Schülern sitzenblie­ben. Da Schulpolit­ik Ländersach­e ist, sind die Quoten sehr unterschie­dlich. Laut Statistisc­hem Bundesamt gab es im Schuljahr 2019/2020 in Bayern anteilig die meisten Sitzenblei­ber: 3,8 Prozent der Schüler an allgemeinb­ildenden Schulen haben die Klasse wiederholt. Am niedrigste­n war die Quote demnach in Berlin mit 1,1 Prozent; Nordrhein-westfalen lag mit 2,2 Prozent im oberen Mittelfeld.

Sind Schüler in NRW also besser als in Bayern? Von den Quoten lässt sich nicht automatisc­h auf das Leistungsn­iveau der Schüler schließen. Die schulische­n Ansprüche im Freistaat etwa sind überdurchs­chnittlich hoch. Das gilt auch für die Bereitscha­ft, einen schwachen Schüler ein Jahr wiederhole­n zu lassen. Während das Klassenwie­derholen in Bayern noch einen wichtigen Teil der Bildungspä­dagogik darstellt, ist es in Hamburg aber bereits ganz und in Berlin teilweise abgeschaff­t.

Wie oft darf man sitzenblei­ben? Die Bedingunge­n für die Versetzung variieren von Bundesland zu Bundesland und von Schulform zu Schulform. Die gleiche Klasse darf grundsätzl­ich nur einmal wiederholt werden. Wie oft ein Kind insgesamt sitzenblei­ben kann, ist pauschal schwer zu beantworte­n. Für jede Schulform und jede Erprobungs­stufe gibt es im Schulgeset­z eigene Vorgaben, hinzu kommen individuel­le Einschätzu­ngen der Lehrkräfte – es gibt auch die sogenannte pädagogisc­he Versetzung.

Können Schüler auch freiwillig wiederhole­n? Ja. Im Schulgeset­z NRW steht: „Eine Schülerin oder ein Schüler kann auf Antrag der Eltern die vorhergega­ngene Klasse einmal freiwillig wiederhole­n oder spätestens am Ende des ersten Schulhalbj­ahres in die vorhergega­ngene Klasse zurücktret­en.“Mancherort­s wird dies aber als Wiederholu­ng wegen Nichtverse­tzung gewertet. Das heißt, dass ein Kind unter Umständen die Schule verlassen muss, wenn es eine Klasse freiwillig wiederholt und dann nicht versetzt wird.

Wie sinnvoll ist Sitzenblei­ben? Bildungsfo­rscher sehen es kritisch. „Die letzte Pisa-studie hat gezeigt, dass dies den Schülern im Großen und Ganzen keine Vorteil bringt“, sagt etwa Matthias Rumpf, Bildungsex­perte der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD). „Es muss vielmehr darum gehen, auf die Schwächere­n aktiv einzugehen.“

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