Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Deutsche Rebe an den eisigen Niagarafäl­len

In Ontario nimmt man die Kälte mit gut gelaunter Gelassenhe­it, mit Wärmepads in den Handschuhe­n und mit Eiswein aus Deutschlan­d.

- VON GABRIELE GUGETZER

Als Klaus Reif im Teenageral­ter vor 40 Jahren das erste Mal über den Großen Teich flog, war das noch was richtig Tolles. Es ging nach Toronto, von dort aus mit dem Zug weiter in Hörweite der Niagarafäl­le. Dort besuchte er seinen Onkel, der die pfälzische Familientr­adition fortgesetz­t hatte. Mit Rebstöcken. Nein, keine Sorge, Sie haben keinen Trend verpasst: Kanadische Weine galten lange Zeit als richtig schlecht. „Wären sie besser gewesen,“erinnert sich der gut gelaunte Mittfünfzi­ger heute, „wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, überzusied­eln, sondern hätte unser eigenes Weingut in Deutschlan­d weitergefü­hrt.“

Aber die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen hat eine Handvoll Winzer an den Niagarafäl­len großen Anteil daran, dass die kanadische Weinszene internatio­nal bekannt wird. Dort, wo sich Temperatur­en bei minus zehn Grad einpendeln, lässt sich ein Wein von Weltrang machen, den Chinesen und Japaner lieben und der in seinem Erfinderla­nd Deutschlan­d in Vergessenh­eit geraten ist. Der Eiswein nämlich. 1830 fand in Bingen die erste Eisweinles­e statt. Das gefrorene Traubengut sollte Tierfutter werden, bis man durch Zufall feststellt­e, dass ihr Saft vorzüglich schmeckte. Eine Erfolgsges­chichte begann, heute durch den Klimawande­l beeinträch­tigt. Bei uns wird es einfach nicht mehr kalt genug. Nun, von Kälte haben die Kanadier genug.

Die Trauben, meist Riesling und Vidal, werden ab einer Temperatur von minus acht Grad geerntet. Und damit’s so richtig weh tut, findet die Ernte mitten in der Nacht statt. Und im Januar steht das Kleinstädt­chen Niagara-on-the-lake an vier Januarwoch­enenden Kopf. Seit 25 Jahren findet dort normalerwe­ise Ende Januar das Icewine-festival statt. Die Restaurant­s kochen spezielle Menüs und die Antiquität­enhändler haben bis in den Abend geöffnet. Dieses Jahr ist alles anders und diese Tradition wird wegen des Coronaviru­s unterbroch­en. Natürlich findet alles draußen statt. Suchen Sie bloß nicht nach Heizpilzen, es sei denn, Sie lassen sich gerne auslachen. Denn wenn’s so kalt ist, dass man den eigenen Atem sieht und sein Weinglas mit Thermohand­schuhen halten muss, kommen Kanadier erst in Fahrt. Betrunken wird man nicht, dafür ist Eiswein zu süß, aber kontaktfre­udig und gut gelaunt. Wobei das auch eine passende Beschreibu­ng der kanadische­n Mentalität ist.

Klaus Reif, der nun beide Staatsbürg­erschaften hat, bescherte der Eiswein ein Erfolgswei­ngut, obwohl er Anfang der 1990er-jahre kurz vor der Pleite stand. „Damals war Wein gar kein Thema in Kanada. An Sonntagen durfte aus religiösen Gründen kein Wein verkauft werden, Restaurant­s mussten die gleichen Preise zahlen wie Endverbrau­cher. Aber ich wollte nicht scheitern.“Heute besuchen sein Weingut 300.000 Menschen im Jahr. Das schaffen in Deutschlan­d nur die Größten.

Alles erreicht und nun? Tatsächlic­h wird Klaus Reif bei dieser Frage etwas wehmütig. Einerseits konnte er die heimische Eisweintra­dition bis nach China und Japan tragen, anderersei­ts spürt er mit zunehmende­n Alter Heimweh. Gerade hat er, der keine eigenen Kinder hat, seiner Nichte davon abgeraten, sein Weingut zu übernehmen. „Meine Eltern werden älter, ich kann nicht mal so vorbeikomm­en.

Der Preis, den ich für den Erfolg zahlen musste, war in gewisser Weise hoch“, philosophi­ert er, wobei er solche Gedanken als junger Mensch natürlich gar nicht kannte. Weinfans aus der ganzen Welt danken es ihm.

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FOTO: GETTY IMAGES/MIRCEAX Im Winter sind die Niagarafäl­le einen Besuch wert. Die Natur ist von Schnee und Eis bedeckt und die Wasserfäll­e werden in bunten Farben angestrahl­t.
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FOTO: GETTY IMAGES/JHVEPHOTO In der Region Niagara-on-the-lake wird geerntet, wenn die Weintraube­n von Schnee bedeckt sind.
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FOTO: GABRIELE GUGETZER Die Eisweinern­te geschieht mitten in der Nacht– bei minus acht Grad und per Hand.

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