Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Parallelwelt Internat
Zwar gibt es in der Schule Gaesdonck bei Goch den Unterricht derzeit auch nur auf Distanz – alles andere findet jedoch aus nächster Nähe statt.
Sonntagabend ist Anreise. Normalerweise alle 14 Tage, zurzeit geht das auch in der Zwischenwoche. Am Collegium Augustinianum Gaesdonck, dem bischöflichen Internatsgymnasium in Goch, kamen nach den Weihnachtsferien wegen des Lockdowns die externen Schüler zwar nicht zurück, wohl aber ein Großteil der Internatsschüler. Viele von ihnen wohnen weit entfernt, manche sogar im Ausland, ein paar davon in Übersee. Ihre Eltern verlassen sich darauf, dass sie das Schuljahr über gut versorgt, betreut und gefördert werden. Auch wenn es dort derzeit keinen Präsenzunterricht gibt, so doch alles andere, was das Internatsleben ausmacht. Das Coronavirus begleitet die Jugendlichen in ihrem Alltag – schränkt sie dabei jedoch vergleichsweise wenig ein. Denn das Internat ist ein Mikrokosmos, in den kaum jemand eindringt, der das Virus im Gepäck haben könnte.
Es gibt praktisch keinen Kontakt nach draußen. Die Eltern haben ihren Nachwuchs auf dem Parkplatz abgegeben und sich dann zurückgezogen. Anders als sonst können sie nicht dabei helfen, die Tasche aufs Zimmer zu schleppen – die Wohnhäuser mit Namen wie „Kapitol“, „Orbis“oder „Navona“gleichen wie der ganze Campus einer Hochsicherheitszone. „Das wesentliche Element unseres Hygienekonzepts ist eine Freitestung durch zwei aufeinanderfolgende Schnelltests“, erklärt Direktor Markus Oberdörster. Ist der erste Test negativ, kann sich der Schüler oder die Schülerin frei auf dem Campus bewegen – allerdings grundsätzlich mit Maske. Wenn nach fünf Tagen der zweite Test ebenfalls unauffällig bleibt, gilt der Jugendliche als coronafrei und darf die Maske fürs Erste weglegen. Für die Beschäftigten gilt das gleiche Verfahren. Außenstehende kommen nur im Ausnahmefall und unter strikten Vorsichtsmaßnahmen auf das Gelände.
Ob die Schüler am Wochenende nach Hause fahren, müssen sie sich momentan gut überlegen. „Dann beginnt das Spiel nämlich von vorne“, erklärt Sarah. Die Schülerin hatte einen familiären Grund, zwischendurch heimzureisen, und musste bei der Rückkehr erneut getestet werden, noch einmal fünf Tage Maske tragen und Abstand zu ihren Freunden wahren.„außerdem bekommen wir in dieser Zeit täglich die Temperatur gemessen.“Nun ist sie den Mund-nase-schutz wieder los und kann mit den Freundinnen fast so umgehen, als wäre alles wie immer. Schülerin Amelie definiert die Situation geradezu enthusiastisch: „Wir haben hier wahrscheinlich die meisten Freiheiten in ganz Deutschland“, sagt sie. „Wer kennt derzeit solchen Luxus: Freunde treffen, gemeinsam essen, Sport treiben. Sogar miteinander Singen ist möglich.“
Diese neue Leidenschaft haben nämlich einige Schüler erst im Lockdown für sich entdeckt: In der Kellerbar „Taverne“, in der schon Generationen von Heranwachsenden ihr erstes Bier tranken, wird mithilfe der Spielkonsole Nintendo Switch neuerdings begeistert Karaoke gesungen. Internatsleiter Michael Gysbers findet das prima und verweist auf eine Stellwand, an die eine Menge Zettel mit weiteren Freizeitmöglichkeiten gepinnt sind. Herumhängen – Corona hin oder her – ist nämlich auf der Gaesdonck nicht so gerne gesehen. Täglich gibt es Workshops, für die sich die Schüler eintragen müssen. „Da sind wir auf ganz witzige neue Themen gekommen“, sagt Oberdörster schmunzelnd. „Retro-spiele“etwa bringen den guten alten Atari zu neuen Ehren, es gibt eine Karten-runde und sogar „Spazierengehen“. Sabine Schleede-schmalz, die in dieser ungewöhnlichen Zeit zum neuen Halbjahr die Schulleitung übernommen hat, staunt. Jugendliche und Spazierengehen? „Da wandern unsere FSJler mit den Schülern über die Felder“, erklärt Gysbers. Knapp ums weitläufige Schulgelände herum und ohne Kontakt zu irgendwem, versteht sich.
Wie alle anderen Schüler sind auch die Internen nicht vom Distanzunterricht verschont. Vormittags ist Unterricht im Selbstlernmodus oder als Videokonferenz. Damit auch während der Corona-pandemie möglichst wenige Lernlücken entstehen, werden alle um 18 Uhr noch mal in die Studierzimmer zum Vokabelnlernen gerufen. Zwischendurch bereiten sich Messdiener mit dem „Spiri“, dem Hausgeistlichen, in der Kapelle auf den nächsten Gottesdienst vor, andere nutzen trockene Stunden fürs Skaten in der Halfpipe.
Gut 50 von 100 Internen sind inzwischen wieder auf den Campus zurückgekehrt und haben dort auch einige Pflichten. Die Tische in den holzvertäfelten Speisesälen, an deren Wände die Porträts würdiger Herren aus der Frühzeit von Kloster und Internat hängen, werden vor den Mahlzeiten eingedeckt. Davon ist der zehnjährige Corvin ebenso wenig befreit wie Josef aus der Oberstufe. Josef ist erst seit dem Sommer in der Gaesdonck und fühlt sich wohl. Corvin erzählt, seine Eltern hätten schon nach einem geeigneten Gymnasium gesucht, als er noch im Kindergarten war. Spätestens während des „Kindercollege“, das Schule und Kreis Kleve für talentierte Grundschüler aus der Region anbieten, sei klar gewesen, dass er Gaesdoncker werden würde. Das ist er jetzt voller Stolz, auch wenn der Fünftklässler gerade humpelt, weil er sich beim Fußballspielen mit den Großen den Fuß vertreten hat.
Nicht wenige Internatsschüler sind Seiteneinsteiger, die in Richtung Abitur noch mal richtig Gas geben und vom Lernen nicht groß abgelenkt werden möchten. Auch ehemalige Realschüler mit der entsprechenden Qualifikation werden gerne aufgenommen und intensiv gefördert, damit sie die Oberstufe packen. „Die Nachfrage nach unserem Internat ist wieder spürbar gestiegen; zum kommenden Schuljahr gibt es schon viele Bewerbungen“, sagt Finanzchef Oberdörster voller Freude. Das ist nicht ganz unwichtig für die bischöfliche Stiftung, die die 170 Jahre alte Einrichtung trägt, denn den großen Komplex mit den historischen Gebäuden, Kirche, Wohnhäusern, Sporteinrichtungen und dem großen Park zu erhalten, ist teuer. Ohne genügend Elternbeiträge wäre das alles nicht zu finanzieren.
Amelie, deren Familie in Bayreuth lebt, ist seit vier Jahren Gaesdonckerin. „Es war meine eigene Entscheidung, das Internat ist mein Zuhause geworden“, sagt sie. Minh aus Vietnam gehört zu denen, die selbst in den Ferien meist auf dem Campus bleiben. Ihre Eltern hat sie lange nicht gesehen. „In der Corona-zeit ist das Reisen besonders schwierig“, sagt sie.