Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die wahren Interessen Deutschlands
ANALYSE Die heftige Kontroverse um die neue Pipeline Nord Stream 2 spaltet Europa und wird die künftigen Beziehungen zwischen Bundesregierung und Us-präsident Joe Biden belasten. Berlin gerät erheblich unter Druck.
Für den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist die Sache klar. „Nord Stream 2 soll die Energieversorgung der nächsten Generation sicherstellen“, stellte der heutige Aufsichtsratschef der Pipeline-gesellschaft im Interview mit unserer Redaktion fest. Ein starker Aufschlag, denn das Gas-projekt mit Russland ist politisch hochumstritten und könnte vor allem den Neustart der transatlantischen Beziehungen unter dem gerade erst angetretenen Us-präsidenten Joe Biden gefährden. Inzwischen hat sogar Frankreich, dessen Energiekonzern Engie maßgeblich die Pipeline mitfinanziert, den Stopp des Prestigevorhabens gefordert. Die Bundesrepublik muss sich offenbar zwischen Energiesicherheit und Bündnistreue entscheiden, wenn Schröder recht hat.
Um was geht es? Das Projekt Nord Stream zählt zu den wichtigsten energiepolitischen Vorhaben Deutschlands. Über die Röhren der ersten Pipeline können jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach Deutschland befördert werden. Mit der zweiten Pipeline, die weitgehend parallel geführt wird, wird die Kapazität auf 110 Milliarden Kubikmeter verdoppelt. Damit ist es möglich, den gesamten Importbedarf Deutschlands zu decken. Das zeigt die Dimension der Projekts. Trotzdem hängt die deutsche Energiesicherheit nicht von Nord Stream 2 ab. Denn sie ersetzt im Wesentlichen den in jüngerer Zeit bisweilen unsicheren Transitweg über die Ukraine. Die Pipeline durch die frühere sowjetische Teilrepublik hat eine ähnliche Kapazität wie die neue Ostsee-röhre, bei der noch 148 Kilometer zur Fertigstellung fehlen.
Für die Us-administration ist die enge Anbindung der deutschen Energieversorgung an das autoritäre Russland ein ernstes Problem. Sie würde es dem Kreml ermöglichen, ohne Rücksicht auf Erdgaslieferungen die Ukraine politisch zu destabilisieren. Und das wollen weder die Amerikaner noch die Franzosen. Unterstützung erhalten sie vom deutschen Außenpolitiker Norbert Röttgen (CDU), der gegen die offizielle Haltung der Bundesregierung das Projekt attackiert. Die Pipeline sei „schädlich“, „unnötig“und ein „machtpolitisches Projekt“, wird der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags nicht müde zu betonen.
Auch andernorts formieren sich die Gegner der Pipeline. Die Grünen, ein möglicher Koalitionspartner der Union, bekämpfen Nord Stream aus umweltund menschenrechtspolitischen Gründen. „Das Projekt ist eine Wette gegen die europäischen Klimaziele, konterkariert alle Eu-sanktionen gegenüber Russland und ist damit ein absolut fatales Projekt“, ätzt die Grünen-chefin Annalena Baerbock. Und die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-schnarrenberger (FDP) schreibt in einem Gastbeitrag für RP Online, die Union müsse sich endlich „außenpolitisch von dem durch Gerhard Schröder geprägten deutsch-russischen Sonderweg lossagen“.
Die Bundesregierung steht trotz des Drucks aus Washington und der Ablehnung des Projekts in Frankreich und Osteuropa zur Fertigstellung der Pipeline. Selbst die Verhaftung des russischen Regimekritikers Alexej Nawalny hat daran nichts geändert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält nichts davon, die beiden Themen miteinander zu verbinden. Das erstaunt den Mainzer Historiker Andreas Rödder wenig. „Der Konflikt um Nord Stream ist ein typisches Beispiel für den Pragmatismus Merkels. Sie hat das Projekt als rein ökonomisches Projekt heruntergespielt. Darüber aber hat sich strategisches Konfliktpotential angesammelt“, befindet Rödder, der als Gastprofessor an der renommierten Us-universität Johns Hopkins Zeitgeschichte unterrichtet.
Der Historiker sieht ernste Probleme für das deutsch-amerikanische Verhältnis, sollte der Streit eskalieren. „Die Situation spitzt sich jetzt zu. Und das ausgerechnet, wenn der neue Us-präsident einen Neustart der transatlantischen Beziehungen plant“, meint der Mainzer Professor. Biden setze zwar auf Multilateralismus und Partnerschaft. Er werde aber von Deutschland und Europa mehr als bisher erwarten. „Sie können nicht mehr Trittbrettfahrer sein.“
Auch in der Union ist die Frage noch nicht geklärt, wie Deutschland zu dem Projekt stehen soll. Der Cdu-vorsitzende Armin Laschet empfiehlt eine pragmatische Haltung, die auch mit den industriepolitischen Interessen des Energielandes Nordrhein-westfalen verknüpft ist. Seine beiden unterlegenen Mitbewerber um den Parteivorsitz, Röttgen und Friedrich Merz, geben sich als klare Atlantiker, denen das Verhältnis zu den USA wichtiger ist als eine Gas-pipeline.
Derweil mehren sich die Stimmen in Washington, die Berlin vor einer allzu großen politischen Abhängigkeit von Russland warnen. Sie befürchten gar, dass Deutschland die westliche Bindung aufgeben könnte. Das hält zwar selbst der Us-freundlichen Außenpolitiker Röttgen für übertrieben. Aber die geopolitische Lage könnte Geister der Vergangenheit wecken.
Gleichzeitig muss Deutschland auch ein Interesse an einem Ausgleich zur östlichen Großmacht haben. „Russland ist ein wichtiger Partner, sowohl ökonomisch als auch politisch“, meint Altkanzler Schröder. Und da geben ihm auch seine Gegner Recht. Und er gibt trotz seiner Putin-vorliebe einen wichtigen Rat: „Wir müssen von der Fixierung wegkommen, Russland als Fortsetzung der alten Sowjetunion zu betrachten.“
Die Energiesicherheit in Deutschland hängt nicht vom Pipeline-projekt Nord Stream 2 ab