Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Sehen lernen mit David Hockney
Die Arbeiten des Briten sind Reflexionen über unser Verhältnis zur Natur und zu anderen Menschen. Sie machen Lust auf das Leben. Ein neuer Bildband fächert das Werk des zweitteuersten lebenden Künstlers auf.
Das ist jetzt, da ein Virus die Welt zu erobern versucht, besonders wichtig: dass man nicht vergisst, wie schön es draußen ist. Und dass es jemanden gibt, der noch einmal zeigt, wie herrlich Natur sein kann und wie toll Menschen sind und Freunde. Und dass man sich schon mal darauf freuen sollte, bald wieder zu schauen und miteinander zu sprechen und zusammen zu sein. Zum Glück gibt es diese Person, die die Lust auf emotionalen Vollkontakt auch im Lockdown wachhält. Sie heißt David Hockney.
Soeben ist ein Bildband erschienen, den jeder auf Krankenschein bekommen sollte, um damit das Warten auf die Impfung zu verkürzen. „David Hockney. A Chronology“heißt er und fächert auf 500 Seiten das Werk des britischen Künstlers auf, der auch mit 83 neugierig wirkt wie ein Kind. Zurzeit versucht er wieder etwas Neues: Im Musée de l’orangerie in Paris wird er bei nächster Gelegenheit die Wände eines 60 Meter langen Korridors mit eigens für ihn gefertigten Leinwänden bespannen, die wie Tapisserien, Wandteppiche also, gestaltet sind. Darauf zu sehen sind dann die Jahreszeiten, und um ihren Verlauf zu entdecken und gewissermaßen Teil der Natur und der Zeit werden zu können, muss man daran entlang schreiten. Der Zuschauer vollendet das Kunstwerk in der Bewegung.
Hockney ist der zweitteuerste lebende Maler. Sein „Portrait Of An Artist (Pool With Two Figures)“, das vor 49 Jahren in einer New Yorker Galerie für 18.000 Dollar verkauft wurde, brachte 2018 bei einer Versteigerung 90,3 Millionen Dollar. Nur „Rabbit“von Jeff Koons erzielte einen höheren Betrag: 91,1 Millionen. Lange wurde Hockney für zu leicht befunden; seine Kunst galt als visuelles Äquivalent von Easy-listening-musik. Vielleicht liegt es an den berühmten Bildern von Swimmingpools, die er in seiner Zeit in den 1960ern und 70ern in L.A. malte. Auf den ersten Blick wirken sie dekorativ, pop-artig. Aber man sollte zweimal hinschauen. Auf die Blätter, Wassertropfen und Strukturen. „Du kannst auf die Oberfläche des
Wassers blicken, oder du kannst hindurchsehen“, sagt Hockney. Und man wähnt ihn dabei vor sich: weißer Pilzkopf, große runde Brille, bunte Socken, lächelnd.
Das ist denn auch das Aufregende an diesem Werk: Es ermuntert, hinzusehen, genauer: zu schauen und zu erkennen. Es feiert die Gegenwart. Es feiert überhaupt das Wachsen und Werden. Und die Beziehungen zwischen den Menschen. Wo immer sich Hockney niederließ, in Kalifornien, Yorkshire oder der Normandie, überall zeichnete er die Jahreszeiten. Er arbeitete mit der jeweils neuen Technik, mit Fotokopierer, Faxgerät, mit Polaroid und 3D. Er steht nicht mit einer Staffelei draußen, sondern mit dem Tablet, für das er sich ein spezielles Zeichenprogramm entwerfen ließ.
Berührend sind die Porträts von seinen Eltern und von Freunden, die er mehrfach zeichnete. Von Celia Birtwell, seiner Muse, die auf seinen Bildern zwischen 1971 und 2019 vor unseren Augen altert. Jede dieser Arbeiten zeigt nicht nur einen Menschen, sondern auch die Beziehung, in der sie zum Maler steht. Auf den zweiten Blick erkennt man das unsichtbare Geflecht, die Chemie zwischen den Personen, die Zuneigung.
Die Malerei ist der Hafen, in dem Hockney nachdenkt und reflektiert und von dem aus er immer wieder aufbricht, um mit dem Neuen zu spielen. Matisse und Picasso sind
seine Helden, wenn es um Landschaftsmalerei geht. Degas, Manet und van Eyck sind seine Hausheiligen des Studioporträts. Bei ihnen geht er aufs Neue in die Lehre und versucht, ihr Wissen für die aktuellen Gegebenheiten fruchtbar zu machen, für die Art, wie wir heute sehen. Dabei erkennt er keine formalen Begrenzungen an. Jeder Stil, jedes Material ist spannend. Seine Fotos arrangiert er zu Collagen aus mitunter Hunderten Einzelbildern. Seine Arbeit „Woldgate Woods. Winter 2010“besteht aus neun Videos eines verschneiten Weges, die auf neun Monitoren zu einer Ansicht arrangiert werden.
Hockney sprengt buchstäblich den Rahmen. Neu denken, Überkommenes überwinden. So war er schon am Royal College of Art, wo er es ablehnte, einen Aufsatz für seine Abschlussprüfung zu schreiben, weil er sich rein über die Kunst ausdrücken wollte. Seinetwegen änderte man die Prüfungsordnung. Und so war er zu Beginn seiner Karriere, als er schwule Sujets in die Kunstgeschichte einbrachte, obwohl Homosexualität in England noch strafbar war.
David Hockney: Revolutionär und Pionier. Einer, der aufbricht. Und dabei so nett ist, uns mitzunehmen auf seine Reise ins Unerhörte. Ist schön da.