Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Jeder zehnte Corona-patient ist Pflegender“
CHRISTEL BIENSTEIN Die Chefin des Berufsverbands für Pflegeberufe fordert eine bessere Vorsorge im Falle neuer Pandemien. Berufsverband vertritt alle Pflegenden
Frau Bienstein, die Bilder aus italienischen Kliniken aus dem Vorjahr haben uns alle aufgeschreckt. Wie weit sind wir heute in Deutschland von solchen Verhältnissen entfernt? BIENSTEIN Wir haben auf den Intensivstationen furchtbare Belastungssituationen erlebt. Kolleginnen und Kollegen mussten Zwölf-stunden-schichten schieben, hatten teils zu wenig Schutzkleidung. Besonders belastend war, dass oft mehrere Patienten pro Tag verstorben sind, nicht nur ältere, sondern auch jüngere.
Ist das heute noch so?
BIENSTEIN Momentan scheint die Corona-spitze überstanden zu sein; die Belegungszahlen auf den Intensivstationen sinken. Wir wissen aber nicht, was noch kommt.
Neben den körperlichen Belastungen sind die Pflegenden ja vor allem psychischem Druck ausgesetzt ...
BIENSTEIN Wir haben vom Verband einen psychosozialen Bereich eingerichtet, wo Kollegen sich melden können, wenn sie psychologische Unterstützung brauchen. Wir bräuchten aber wesentlich mehr Hilfe in dem Bereich. In den Krankenhäusern sind zwar auch Psychologen und Theologen tätig, viele haben aber Angst, zu den Intensivstationen Kontakt aufzunehmen. Das ist aber nicht nur ein Problem der Pflege, auch die Mediziner fühlen sich psychisch überfordert.
Glauben Sie, dass der Berufsstand langfristig durch diesen Druck Schaden nimmt, also unattraktiver wird?
BIENSTEIN Wir wissen, dass ganz viele überlegen, ob sie aus dem Beruf aussteigen sollen, weil die Belastungen zu groß sind. Die Gehälter passen ja auch nicht zu dem, was sie leisten müssen.
Ist denn die Wertschätzung für Pflegende nicht gestiegen? BIENSTEIN In der Bevölkerung schon, in der Politik bezweifle ich das. Wir hatten gerade eine gemeinsame Anfrage des Familienministeriums und des Gesundheitsministeriums, ob Auszubildende nicht etwa die Testungen der Besucher in Altenheimen übernehmen könnten. Da haben wir uns natürlich heftig gegen gewehrt.
Haben sich die Arbeitsbedingungen insgesamt verbessert?
BIENSTEIN Nein, noch nicht. Allerdings haben Verdi, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Pflegerat eine Strategie entwickelt, wie sich die Personalbemessung anders darstellen könnte. Gesundheitsminister Jens Spahn liegt das Konzept vor. Die Krankenkassen arbeiten aber dagegen. Wir müssen jetzt schwer darum kämpfen, wir brauchen dringend mehr Personal. Auf den Intensivstationen versorgt im Moment eine Pflegende bis zu vier beatmete Patienten. In vielen anderen Ländern Europas ist das Verhältnis eins zu eins. Bei uns trägt in Kliniken auf Normalstationen nachts eine Pflegende die Verantwortung für 28 Patienten, und in Pflegeheimen sogar im Schnitt für 52 Bewohner, und die sind oft schwerkrank. Die personelle Situation ist völlig unzureichend, und das führt zu einem totalen Ausgebranntsein.
Was ist aus Ihrer Sicht der Schlüssel zu einer besseren Pflege?
BIENSTEIN Was wir brauchen, ist eine grundsätzliche Reform des Gesundheitssystems. Bislang ist alles aufs Krankenhaus ausgerichtet. Wir haben ein tradiertes System mit Krankenhaus, Altenheim und ambulanter Versorgung. Im Ausland gibt es dagegen Primärversorgungszentren. Dänemark zum Beispiel versorgt mit 32 Kliniken die gesamte Bevölkerung und erzielt mit seiner Direktversorgung bessere Ergebnisse als wir in Deutschland.
Ein Systemwechsel ist eine Herkulesaufgabe ...
BIENSTEIN Aber er ist machbar. Wir müssen zum Beispiel Beratungskonzepte entwickeln für Bürgermeister und Landräte, in denen erklärt wird, warum ihr Krankenhaus geschlossen wird. Sie müssen verstehen, dass das Gesundheitssystem verstärkt wird, wenn sie mithelfen das System zu verändern.
Sie wollen also weniger Krankenhäuser, dafür aber mehr direkte ärztliche Versorgung.
BIENSTEIN Wir brauchen Primärversorgungszentren, wo man schnell hin und auch zwei Nächte bleiben kann, aber nicht in ein großes Krankenhaus eingewiesen werden muss. Dies ließe sich so gestalten, dass alle Bürger innerhalb von 20 Minuten in eines der großen Zentren käme. Aber es traut sich keiner daran. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft arbeitet nicht aktiv daran mit, auch wenn sie das eigentlich müsste, um die Situation zu verbessern. Wir hätten dann auch genug Pflegende, die man auf die Maximalversorger und ambulante Dienste verteilen könnte. Es hilft nicht, immer nur zu sagen, wir brauchen mehr Personal.
Zurück zum Thema Corona: Werden Pflegekräfte ausreichend geschützt, gibt es regelmäßige Tests, müssen sie bei der Impfung gegebenenfalls vorgezogen werden? BIENSTEIN Im Augenblick haben wir ausreichend Schutzausrüstung. Pflegende können sich zudem regelmäßig testen lassen – auch in den Einrichtungen. Aber wir haben nicht genug Impfstoff. Viele Kliniken warten dringend darauf, weil die Mitarbeitenden auf den Corona-stationen hochgradig gefährdet sind. Zehn Prozent aller Covid-19-patienten sind Pflegende. Eine rasche Impfung ist für die Pflegenden lebenswichtig.
Will sich die Mehrheit der Pflegenden überhaupt impfen lassen? Es ist von Impfverweigerern die Rede. BIENSTEIN Die Pflegenden kennen sich gut aus mit dem Impfen und wissen, dass man sich schützen muss. Das Interesse, sich impfen zu lassen, ist hoch. Wir haben keine Daten darüber, wer Skeptiker ist. Das sind eher weniger qualifizierte Personen, die sich nicht über die Impfung informieren.
Fehlt es an der richtigen Kommunikation?
BIENSTEIN Ja, es hat auch ein wenig mit dem Management zu tun. Ich kenne Einrichtungen, die ganz früh mit den Kolleginnen und Kollegen über das Impfen gesprochen haben. Es gibt aber auch Kliniken und Pflegeeinrichtungen, die das nicht gemacht haben. Manche Heimleiter haben keine Aufklärung geleistet.
Wäre eine Impfpflicht für Pflegende sinnvoll?
BIENSTEIN Nein, man kann die Berufsgruppe jetzt nicht zwingen und an den Pranger stellen. Da müsste man auch die Ärzte verpflichten, die Mitarbeitenden im Sanitätsdienst und bei der Feuerwehr. Wir wissen auch noch nicht, ob eine Impfung überhaupt vor der Weitergabe des Virus schützt. Das Grundgesetz sichert ja zu, dass man selbst über die eigene Gesundheit entscheiden kann. Wir brauchen Aufklärung, keine Impfpflicht.
Tragen denn Pflegekräfte potenziell das Virus von Patient zu Patient? BIENSTEIN Die Alten- und Pflegeheime sind mittlerweile hygienisch sehr gut aufgestellt. Ich glaube, dass zu Beginn der Krise so etwas passiert ist. Aber im Augenblick weiß ich, dass ein ganz großer Prozentsatz der Heime großen Wert auf die Hygiene legt. Man kann so etwas nicht verhindern, aber es gibt keine Übersicht darüber, wer solche Infektionen ausgelöst hat.
Es heißt, manche Heimleiter hielten sich bei den Tests ihrer Mitarbeiter zurück, weil alle Kräfte gebraucht würden, oder selbst positiv Getestete würden zum Einsatz geschickt.
BIENSTEIN Das ist ein Unding. Dass man jemand, der positiv getestet ist, noch zum Einsatz schickt, das ist dramatisch. Natürlich gibt es Kliniken, die sich beim Testen zurückhalten oder Leiharbeiter nicht testen, das ist dann auch ein Riesenproblem. Das muss man strikt verurteilen.
Sind ausländische Kräfte in der Pflege eine unliebsame Konkurrenz?
BIENSTEIN Ohne sie würden wir gar nicht auskommen, weil wir nicht genügend Leute in der Altenpflege haben, die in der Lage wären, 24 Stunden jemanden zu begleiten. Von daher müssen wir sehr dankbar sein, dass sich überhaupt Menschen bereit erklären, das zu tun. Aber wir müssen aufpassen, dass sie nicht ausgebeutet werden. Wir sind auf diese Helferinnen angewiesen, aber wir brauchen auch Regeln. Man muss dafür sorgen, dass den schwarzen Schafen unter den Vermittlern das Handwerk gelegt wird.
Wann haben wir in der Pandemie das Schlimmste überstanden? BIENSTEIN Ich vermute, dass sich die Lage im Mai etwas entspannt, weil die Wärme dem Virus nicht guttut. Aber das sagt nichts darüber, ob wir nicht im Herbst wieder einen Anstieg sehen werden. Das hat viel mit der Disziplin der Bevölkerung und der Impfstrategie zu tun.
Ist die Sorge unter Pflegenden groß, dass die Mutation die Situation schnell wieder verschlechtern kann?
BIENSTEIN In den Kliniken wird das diskutiert. Corona-stationen werden vorerst nicht geschlossen. Das ist ein Riesenproblem für die Häuser, wie das reibungsfrei zusammen
Verband Die Recklinghäuser Professorin Christel Bienstein ist Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, der für sich in Anspruch nimmt, alle Pflegenden in Deutschland zu vertreten. Der Verband hat rund 20.000 Mitglieder.
geht mit dem normalen Betrieb. Wir wissen zum Beispiel, dass Krebskranke derzeit nicht genug Unterstützung erhalten und nicht genug Operationen durchgeführt werden. Das kann man nicht lange aufrechterhalten.
Sie waren zu Beginn Ihrer Laufbahn selbst Krankenschwester. Würden Sie jungen Menschen heute raten, den Berufsweg einzuschlagen?
BIENSTEIN Ich finde den Beruf toll, war selbst mit Herz und Seele dabei. Man hat wahnsinnige Möglichkeiten. Was fehlt, sind verbesserte Arbeitsbedingungen. Das hängt mit dem Mangel an Pflegepersonal zusammen, und das wiederum liegt am Gesundheitssystem, das die Leute falsch verteilt.
Welche Note würden Sie der Politik dafür geben, wie sie die Pandemie bewältigt?
BIENSTEIN Ich würde eine Drei geben.
Was hätte man besser machen können?
BIENSTEIN Man hätte im Vorfeld die Altenpflege und die ambulanten Pflegedienste mehr in den Blick nehmen müssen. Das ist leider nicht geschehen. Man hätte sehr stark schauen müssen, wie wir die Pandemie präventiv angehen können. Und es muss geklärt werden, wie wir die Pflegenden auf künftige Pandemien vorbereiten. Denn die werden kommen. Und wir waren bei der jetzigen nicht gut vorbereitet.
Welcher Politiker bekäme die Bestnote? Wer schneidet schlecht ab? BIENSTEIN Das ist schwierig zu sagen. Es ging immer zwischen Markus Söder und Armin Laschet hin und her. Ich glaube, wir haben das in NRW relativ gut geregelt. Sehr ernsthaft – aber mit dem Blick darauf, ob die Bevölkerung das mittragen kann. Söder hat ein strenges Regime eingeführt, aber das stieß bei den Menschen nicht immer auf Verständnis. Ich würde mich da nicht entscheiden wollen.