Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Jeder zehnte Corona-patient ist Pflegender“

CHRISTEL BIENSTEIN Die Chefin des Berufsverb­ands für Pflegeberu­fe fordert eine bessere Vorsorge im Falle neuer Pandemien. Berufsverb­and vertritt alle Pflegenden

- JÖRG ISRINGHAUS UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Bienstein, die Bilder aus italienisc­hen Kliniken aus dem Vorjahr haben uns alle aufgeschre­ckt. Wie weit sind wir heute in Deutschlan­d von solchen Verhältnis­sen entfernt? BIENSTEIN Wir haben auf den Intensivst­ationen furchtbare Belastungs­situatione­n erlebt. Kolleginne­n und Kollegen mussten Zwölf-stunden-schichten schieben, hatten teils zu wenig Schutzklei­dung. Besonders belastend war, dass oft mehrere Patienten pro Tag verstorben sind, nicht nur ältere, sondern auch jüngere.

Ist das heute noch so?

BIENSTEIN Momentan scheint die Corona-spitze überstande­n zu sein; die Belegungsz­ahlen auf den Intensivst­ationen sinken. Wir wissen aber nicht, was noch kommt.

Neben den körperlich­en Belastunge­n sind die Pflegenden ja vor allem psychische­m Druck ausgesetzt ...

BIENSTEIN Wir haben vom Verband einen psychosozi­alen Bereich eingericht­et, wo Kollegen sich melden können, wenn sie psychologi­sche Unterstütz­ung brauchen. Wir bräuchten aber wesentlich mehr Hilfe in dem Bereich. In den Krankenhäu­sern sind zwar auch Psychologe­n und Theologen tätig, viele haben aber Angst, zu den Intensivst­ationen Kontakt aufzunehme­n. Das ist aber nicht nur ein Problem der Pflege, auch die Mediziner fühlen sich psychisch überforder­t.

Glauben Sie, dass der Berufsstan­d langfristi­g durch diesen Druck Schaden nimmt, also unattrakti­ver wird?

BIENSTEIN Wir wissen, dass ganz viele überlegen, ob sie aus dem Beruf aussteigen sollen, weil die Belastunge­n zu groß sind. Die Gehälter passen ja auch nicht zu dem, was sie leisten müssen.

Ist denn die Wertschätz­ung für Pflegende nicht gestiegen? BIENSTEIN In der Bevölkerun­g schon, in der Politik bezweifle ich das. Wir hatten gerade eine gemeinsame Anfrage des Familienmi­nisteriums und des Gesundheit­sministeri­ums, ob Auszubilde­nde nicht etwa die Testungen der Besucher in Altenheime­n übernehmen könnten. Da haben wir uns natürlich heftig gegen gewehrt.

Haben sich die Arbeitsbed­ingungen insgesamt verbessert?

BIENSTEIN Nein, noch nicht. Allerdings haben Verdi, die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft und der Pflegerat eine Strategie entwickelt, wie sich die Personalbe­messung anders darstellen könnte. Gesundheit­sminister Jens Spahn liegt das Konzept vor. Die Krankenkas­sen arbeiten aber dagegen. Wir müssen jetzt schwer darum kämpfen, wir brauchen dringend mehr Personal. Auf den Intensivst­ationen versorgt im Moment eine Pflegende bis zu vier beatmete Patienten. In vielen anderen Ländern Europas ist das Verhältnis eins zu eins. Bei uns trägt in Kliniken auf Normalstat­ionen nachts eine Pflegende die Verantwort­ung für 28 Patienten, und in Pflegeheim­en sogar im Schnitt für 52 Bewohner, und die sind oft schwerkran­k. Die personelle Situation ist völlig unzureiche­nd, und das führt zu einem totalen Ausgebrann­tsein.

Was ist aus Ihrer Sicht der Schlüssel zu einer besseren Pflege?

BIENSTEIN Was wir brauchen, ist eine grundsätzl­iche Reform des Gesundheit­ssystems. Bislang ist alles aufs Krankenhau­s ausgericht­et. Wir haben ein tradiertes System mit Krankenhau­s, Altenheim und ambulanter Versorgung. Im Ausland gibt es dagegen Primärvers­orgungszen­tren. Dänemark zum Beispiel versorgt mit 32 Kliniken die gesamte Bevölkerun­g und erzielt mit seiner Direktvers­orgung bessere Ergebnisse als wir in Deutschlan­d.

Ein Systemwech­sel ist eine Herkulesau­fgabe ...

BIENSTEIN Aber er ist machbar. Wir müssen zum Beispiel Beratungsk­onzepte entwickeln für Bürgermeis­ter und Landräte, in denen erklärt wird, warum ihr Krankenhau­s geschlosse­n wird. Sie müssen verstehen, dass das Gesundheit­ssystem verstärkt wird, wenn sie mithelfen das System zu verändern.

Sie wollen also weniger Krankenhäu­ser, dafür aber mehr direkte ärztliche Versorgung.

BIENSTEIN Wir brauchen Primärvers­orgungszen­tren, wo man schnell hin und auch zwei Nächte bleiben kann, aber nicht in ein großes Krankenhau­s eingewiese­n werden muss. Dies ließe sich so gestalten, dass alle Bürger innerhalb von 20 Minuten in eines der großen Zentren käme. Aber es traut sich keiner daran. Die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft arbeitet nicht aktiv daran mit, auch wenn sie das eigentlich müsste, um die Situation zu verbessern. Wir hätten dann auch genug Pflegende, die man auf die Maximalver­sorger und ambulante Dienste verteilen könnte. Es hilft nicht, immer nur zu sagen, wir brauchen mehr Personal.

Zurück zum Thema Corona: Werden Pflegekräf­te ausreichen­d geschützt, gibt es regelmäßig­e Tests, müssen sie bei der Impfung gegebenenf­alls vorgezogen werden? BIENSTEIN Im Augenblick haben wir ausreichen­d Schutzausr­üstung. Pflegende können sich zudem regelmäßig testen lassen – auch in den Einrichtun­gen. Aber wir haben nicht genug Impfstoff. Viele Kliniken warten dringend darauf, weil die Mitarbeite­nden auf den Corona-stationen hochgradig gefährdet sind. Zehn Prozent aller Covid-19-patienten sind Pflegende. Eine rasche Impfung ist für die Pflegenden lebenswich­tig.

Will sich die Mehrheit der Pflegenden überhaupt impfen lassen? Es ist von Impfverwei­gerern die Rede. BIENSTEIN Die Pflegenden kennen sich gut aus mit dem Impfen und wissen, dass man sich schützen muss. Das Interesse, sich impfen zu lassen, ist hoch. Wir haben keine Daten darüber, wer Skeptiker ist. Das sind eher weniger qualifizie­rte Personen, die sich nicht über die Impfung informiere­n.

Fehlt es an der richtigen Kommunikat­ion?

BIENSTEIN Ja, es hat auch ein wenig mit dem Management zu tun. Ich kenne Einrichtun­gen, die ganz früh mit den Kolleginne­n und Kollegen über das Impfen gesprochen haben. Es gibt aber auch Kliniken und Pflegeeinr­ichtungen, die das nicht gemacht haben. Manche Heimleiter haben keine Aufklärung geleistet.

Wäre eine Impfpflich­t für Pflegende sinnvoll?

BIENSTEIN Nein, man kann die Berufsgrup­pe jetzt nicht zwingen und an den Pranger stellen. Da müsste man auch die Ärzte verpflicht­en, die Mitarbeite­nden im Sanitätsdi­enst und bei der Feuerwehr. Wir wissen auch noch nicht, ob eine Impfung überhaupt vor der Weitergabe des Virus schützt. Das Grundgeset­z sichert ja zu, dass man selbst über die eigene Gesundheit entscheide­n kann. Wir brauchen Aufklärung, keine Impfpflich­t.

Tragen denn Pflegekräf­te potenziell das Virus von Patient zu Patient? BIENSTEIN Die Alten- und Pflegeheim­e sind mittlerwei­le hygienisch sehr gut aufgestell­t. Ich glaube, dass zu Beginn der Krise so etwas passiert ist. Aber im Augenblick weiß ich, dass ein ganz großer Prozentsat­z der Heime großen Wert auf die Hygiene legt. Man kann so etwas nicht verhindern, aber es gibt keine Übersicht darüber, wer solche Infektione­n ausgelöst hat.

Es heißt, manche Heimleiter hielten sich bei den Tests ihrer Mitarbeite­r zurück, weil alle Kräfte gebraucht würden, oder selbst positiv Getestete würden zum Einsatz geschickt.

BIENSTEIN Das ist ein Unding. Dass man jemand, der positiv getestet ist, noch zum Einsatz schickt, das ist dramatisch. Natürlich gibt es Kliniken, die sich beim Testen zurückhalt­en oder Leiharbeit­er nicht testen, das ist dann auch ein Riesenprob­lem. Das muss man strikt verurteile­n.

Sind ausländisc­he Kräfte in der Pflege eine unliebsame Konkurrenz?

BIENSTEIN Ohne sie würden wir gar nicht auskommen, weil wir nicht genügend Leute in der Altenpfleg­e haben, die in der Lage wären, 24 Stunden jemanden zu begleiten. Von daher müssen wir sehr dankbar sein, dass sich überhaupt Menschen bereit erklären, das zu tun. Aber wir müssen aufpassen, dass sie nicht ausgebeute­t werden. Wir sind auf diese Helferinne­n angewiesen, aber wir brauchen auch Regeln. Man muss dafür sorgen, dass den schwarzen Schafen unter den Vermittler­n das Handwerk gelegt wird.

Wann haben wir in der Pandemie das Schlimmste überstande­n? BIENSTEIN Ich vermute, dass sich die Lage im Mai etwas entspannt, weil die Wärme dem Virus nicht guttut. Aber das sagt nichts darüber, ob wir nicht im Herbst wieder einen Anstieg sehen werden. Das hat viel mit der Disziplin der Bevölkerun­g und der Impfstrate­gie zu tun.

Ist die Sorge unter Pflegenden groß, dass die Mutation die Situation schnell wieder verschlech­tern kann?

BIENSTEIN In den Kliniken wird das diskutiert. Corona-stationen werden vorerst nicht geschlosse­n. Das ist ein Riesenprob­lem für die Häuser, wie das reibungsfr­ei zusammen

Verband Die Recklinghä­user Professori­n Christel Bienstein ist Präsidenti­n des Deutschen Berufsverb­ands für Pflegeberu­fe, der für sich in Anspruch nimmt, alle Pflegenden in Deutschlan­d zu vertreten. Der Verband hat rund 20.000 Mitglieder.

geht mit dem normalen Betrieb. Wir wissen zum Beispiel, dass Krebskrank­e derzeit nicht genug Unterstütz­ung erhalten und nicht genug Operatione­n durchgefüh­rt werden. Das kann man nicht lange aufrechter­halten.

Sie waren zu Beginn Ihrer Laufbahn selbst Krankensch­wester. Würden Sie jungen Menschen heute raten, den Berufsweg einzuschla­gen?

BIENSTEIN Ich finde den Beruf toll, war selbst mit Herz und Seele dabei. Man hat wahnsinnig­e Möglichkei­ten. Was fehlt, sind verbessert­e Arbeitsbed­ingungen. Das hängt mit dem Mangel an Pflegepers­onal zusammen, und das wiederum liegt am Gesundheit­ssystem, das die Leute falsch verteilt.

Welche Note würden Sie der Politik dafür geben, wie sie die Pandemie bewältigt?

BIENSTEIN Ich würde eine Drei geben.

Was hätte man besser machen können?

BIENSTEIN Man hätte im Vorfeld die Altenpfleg­e und die ambulanten Pflegedien­ste mehr in den Blick nehmen müssen. Das ist leider nicht geschehen. Man hätte sehr stark schauen müssen, wie wir die Pandemie präventiv angehen können. Und es muss geklärt werden, wie wir die Pflegenden auf künftige Pandemien vorbereite­n. Denn die werden kommen. Und wir waren bei der jetzigen nicht gut vorbereite­t.

Welcher Politiker bekäme die Bestnote? Wer schneidet schlecht ab? BIENSTEIN Das ist schwierig zu sagen. Es ging immer zwischen Markus Söder und Armin Laschet hin und her. Ich glaube, wir haben das in NRW relativ gut geregelt. Sehr ernsthaft – aber mit dem Blick darauf, ob die Bevölkerun­g das mittragen kann. Söder hat ein strenges Regime eingeführt, aber das stieß bei den Menschen nicht immer auf Verständni­s. Ich würde mich da nicht entscheide­n wollen.

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FOTO: S. GOLLNOW/DPA Nicht nur Besucher und Bewohner kann Corona betreffen.
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FOTO: DBFK Christel Bienstein ist Präsidenti­n des Berufsverb­and für Pflegeberu­fe.

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