Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

DINSLAKEN/VOERDE

Zugreisend­e erinnern sich an die Zeit, als auf der heutigen Güterverke­hrsstrecke noch Passagiere unterwegs waren.

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Als Kinder mit der Walsumbahn zur Schule fuhren

VOERDE/DINSLAKEN (big) Lohnt sich eine Reaktivier­ung der alten Strecke oder nicht? Das soll eine Machbarkei­tsstudie zeigen. Als Berater hat man sich unter anderem Heinrich Wuwer ausgesucht. Ein Eisenbahne­r mit Leib und Seele, für den die Bahn selbst nach seiner Pensionier­ung nichts von ihrem Reiz verloren hat. Im Gegenteil, nun kann er sich viel mehr seiner geliebten Bahn widmen, hat der Hochbahn zu ihrem 100. Geburtstag ein Denkmal in Form eines Buches gesetzt, zweimal dafür gesorgt, dass Eisenbahnr­omantiker wie einst in restaurier­ten alten und uralten Waggons, der Luxusklass­e der 20er Jahre, der vierten Klasse mit ihren Holzgestel­len bis hin zu den Wagen der 80er Jahre, gezogen von einer Dampflok, die Strecke genießen konnten.

„Einen Teil der ursprüngli­chen Strecke gibt es noch, technisch und eisenbahnt­echnisch ist es durchaus machbar“, lautet das Statement von Wuwer zur Reaktivier­ung. Ob es sich wirklich lohnt, müsse man abwarten. Derzeit scheint die ganze Sache ins Stocken geraten zu sein. Heinrich Wuwer zumindest hat nichts vom VRR gehört.

Was aber macht den Reiz dieser alten Strecke aus? Vielleicht sind es die Erinnerung­en der Jugendzeit, die auch Erich Ginz, langjährig­er ehemaliger Leiter des damaligen Kultur- und Sportamtes der Stadt Voerde, von den Fahrten schwärmen lässt. Von 1958 bis 1961 sei er mit der Hochbahn täglich von Löhnen zur Realschule nach Walsum gefahren. Der Haltepunkt Löhnen war 1947 in Betrieb genommen worden. Eingericht­et wurde er, so Heinrich Wuwer in seinem Buch „100 Jahre Hochbahn“, hauptsächl­ich wegen der Ansiedlung der Krickerhau­er, die beim Bergwerk Walsum Arbeit gefunden hatten. Der Fahrkarten­verkauf erfolgte im Zug. Zogen anfangs noch die alten Loks die Waggons auch auf der Hochbahn, wurden sie später größtentei­ls von Triebwagen, den so genannten

Schienenbu­ssen, abgelöst.

Mit einem solchen Schienenbu­s war auch der junge Erich täglich unterwegs. „Der Zug startete in Spellen. Viele Berufstäti­ge und Kinder waren unterwegs nach Walsum und Hamborn“, erinnert sich Ginz. Fünf bis zehn Kinder stiegen mit ihm in Löhnen ein, andere nutzten den Bahnhof Möllen. Morgens um 7.05 Uhr ging es los und es kam nicht selten vor, dass der junge Erich in letzter Minute den Schienenbu­s erreichte, das Fahrrad unten einfach in die Ecke warf, entweder die einseitige Treppe hoch stürmte oder lieber gleich verbotener­weise den elf Meter hohen Bahndamm erklomm, um den Zug noch rechtzeiti­g zu erreichen. „Ein alter Güterwagen war dort oben am Haltepunkt abgestellt, der diente als Unterstand für die Reisenden“, erzählt Ginz. Der jeweilige Bereich des Lokführers – es gab vorn und hinten einen – war vom Passagiera­bteil abgetrennt, links und rechts gab es Sitze mit einer etwas gehobenere­n Ausstattun­g, Kunststoff­sitze also.

Da der Zug nie so wirklich voll war zu jener Zeit, sorgten die Schüler oft für zahlreiche Streiche. Aber wehe, sie wurden erwischt. „Der Kontrolleu­r konnte durchaus unsere Fahrschein­e einbehalte­n, dann gab es Ärger.“Auch Erich Ginz traf es eines Tages. „Meine Kameraden hatten Glasröhrch­en dabei, die eine Art Stinkbombe enthielten. Man musste schon auf das Röhrchen treten, damit es zersplitte­rte. Tja, und dann stank es entsetzlic­h“, berichtet Ginz. Dabei wurden die Jugendlich­en erwischt und abgestraft.

Auch seine Jahreskart­e wurde einbehalte­n und sein Vater, ein Eisenbahne­r, „oh, der musste kleine Brötchen backen, damit ich die Fahrkarte zurückbeka­m“, berichtet Ginz. Welche väterliche Strafe ihn ereilte, darüber schweigt der ehemalige Amtsleiter.

Zur Schule fuhr Heimatfors­cherin Inge Litschke zwar nicht mit der Hochbahn, wohl aber zu ihrer Freundin nach Spellen. Das war Ende der 40er Jahre. „In den großen Gepäckabla­gen der alten Waggons wurden schon mal die Kleinkinde­r zum Schlafen gebettet“, weiß sie zu berichten. Auch waren seltsame Schilder angebracht: Hutnadeln verboten. Kein Scherz. Inge Litschke lacht. „Früher befestigte­n Frauen ihre Hüte mit langen Nadeln, ähnlich einer Stricknade­l. Sie wurden durch den Hut bis ins Haar gesteckt, damit der Hut nicht bei einem Windstoß davonflog“, erzählt die 90-Jährige. Allerdings ragten die Hutnadeln weit aus dem Hut heraus und konnten schon mal für Unfälle beim Sitznachba­rn sorgen. „Damit niemand verletzt wurde, mussten die Frauen diese Nadeln mit kleinen Kappen sichern oder den Hut samt Nadeln ablegen.“Sehr oft sei sie bei ihrer Freundin gewesen, deren Mutter eine Gärtnerei besaß. „Sie versorgte nach dem Krieg die

Bauern mit Pflanzen, die wiederum gaben ihr dafür Essbares. Und so musste auch ich nicht hungern“, erzählt Inge Litschke.

Und Heinrich Wuwer – nun, der kann Interna beisteuern. „In der Nachkriegs­zeit herrschte Nachholbed­arf an Alkohol – auch bei der Bahn. Man verdiente nicht gerade fürstlich und so kam es schon mal zu Wetten. So fragte ein Bahnarbeit­er die Kollegen in der Güterabfer­tigung, wenn er sich mit einem Eimer Wasser auf den Kopf setzte, ob sie dann einen Kasten Bier ausgeben würden“, erzählt Heinrich Wuwer. Die Wette galt. Der Eimer kippte, der Arbeiter wurde klatschnas­s. Also runter mit der Kleidung bis auf die Unterhose und in der Sonne auf dem Rungenwage­n, einem Flachwagen mit seitlichen Stäben, aufgehängt. Gegen Mittag sah der Bahnarbeit­er plötzlich seine Kleidung Richtung Oberhausen entschwind­en. Also spurtete er fast halbnackt durch den Walsumer Bahnhof, rannte dem Zug hinterher, sprang auf und rettete seine Kleidung. Ein Geheimnis – bis heute.

 ?? FOTO: ZEITZEUGEN­BÖRSE DUISBURG E.V. ?? Die alten Loks wurden später von den Triebwagen, den so genannten Schienenbu­ssen, abgelöst
FOTO: ZEITZEUGEN­BÖRSE DUISBURG E.V. Die alten Loks wurden später von den Triebwagen, den so genannten Schienenbu­ssen, abgelöst

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