Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Vielstimmigkeit auch in der Krise
Faktenorientierte Forschung ist die Grundlage für Kritik und Diskussion.
Neuerdings wähnen immer mehr Nichtexperten, beurteilen zu können, wer ein ordentlicher Wissenschaftler ist und wer nicht. So wurde dem Virologen Hendrik Streeck vorgehalten, er habe gegen „wissenschaftlich begründete Maßnahmen“argumentiert, obgleich doch „längst klar“sei, dass andere Strategien nicht funktionieren. „Viele solcher Experten erwecken den Eindruck, in der Wissenschaft gehe es bloß um Meinungen – und nicht um Evidenz“, heißt es etwa. Vor solchen gefährlichen und verantwortungslosen Subjekten mit ihren abweichenden Meinungen sei größte Vorsicht angebracht: „Das untergräbt die Glaubwürdigkeit von sauber arbeitenden Forscherinnen und Forschern.“ Statt uns anzumaßen, Kompetenzen zu beurteilen, sollten wir darüber nachdenken, wo die Grenzen der Wissenschaft liegen und die politische Entscheidung anfängt. Experimentell gestützte wissenschaftliche Hypothesen sind in der Tat mehr als bloße Meinungen, können aber jederzeit durch Experimente und Erfahrungen in ihrer Aussagekraft relativiert werden. Und auch wenn sie momentan unstrittig sind, folgt daraus noch nicht, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, weil diese Regeln und Anordnungen nie nur eine Wirkung haben. Eine verantwortungsbewusste Politik darf sich nicht nur auf das konzentrieren, was hinsichtlich der neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft am effektivsten zur Bekämpfung des Virus erscheint. Sie muss auch die Wirkungen dieser Maßnahmen für das Leben der Menschen berücksichtigen – psychische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen von Kindern, den ökonomischen Ruin vieler Existenzen. Wir brauchen eine vielstimmige und kontroverse Diskussion, um uns das immer wieder zu vergegenwärtigen. So rational es scheinen mag, alles zu tun, um die Vermehrung des Virus zu stoppen: Es kann mit Blick auf die Folgen der Maßnahmen auf unser Leben trotzdem unvernünftig sein.
Unsere Autorin ist Philosophie-professorin an der Ruhr-universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.