Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Faktenchec­k zum Impfstart

Deutschlan­d liegt beim Impfen weit zurück. Die Gründe, die die Kanzlerin dafür nennt, sind nicht überzeugen­d. Datenschüt­zer und Ökonomen sprechen von Ablenkungs­manövern, um das Eu-versagen zu kaschieren.

- VON ANTJE HÖNING

BERLIN Der Impfgipfel dauerte viele Stunden, die Kanzlerin bekräftigt­e ihre Zusage, dass alle Bürger in Deutschlan­d bis zum 21. September ein Impfangebo­t erhalten sollen. Doch der internatio­nale Vergleich bleibt ernüchtern­d: In Deutschlan­d sind bislang rund drei Prozent der Bevölkerun­g gegen Corona geimpft. In Großbritan­nien sind es schon 14 Prozent, in Israel gar 58 Prozent. Und viele Gipfel-erklärunge­n zum Rückstand überzeugen nicht. Ein Faktenchec­k.

Gründliche Prüfung verzögert das Impftempo. Angela Merkel begründet das niedrige Impftempo damit, dass sich die EU gegen eine Notzulassu­ng entschiede­n habe. „Aus guten Gründen: Es geht hier nämlich auch um Vertrauen“, so die Kanzlerin. In einem hat sie recht: Angesichts der geringen Impfbereit­schaft war es wichtig, dass die Behörden gründlich prüfen. Schließlic­h wollten sich zunächst nur 53 Prozent der Deutschen impfen lassen. Für eine Herdenimmu­nität braucht man aber wegen der Mutationen inzwischen eine Impfquote von 80 Prozent, laut Kanzlerin müssen sogar 73 Millionen ein Angebot erhalten. Die gründliche Prüfung erklärt vielleicht, warum Deutschlan­d später als Großbritan­nien angefangen hat zu impfen. Sie erklärt aber nicht, warum es jetzt so langsam vorangeht. Denn die Hersteller haben bereits mit der Impfstoffp­roduktion begonnen, als sie noch gar keine Zulassung hatten. Nur hat die EU einfach nicht bestellt. „Der Prozess in Europa lief nicht so schnell ab wie mit anderen Ländern“, sagte Biontech-gründer Ugur Sahin unlängst im „Spiegel“. „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug. Mich hat das gewundert.“

Datenschut­z verzögert das Impftempo. Die Kanzlerin betonte auch, dass es in anderen Ländern wie Israel einen anderen Umgang mit Daten gebe. Das will Ulrich Kelber, der Datenschut­zbeauftrag­te der Bundesregi­erung, nicht auf sich sitzen lassen. „Das ist schon ärgerlich. Der Datenschut­z ist nicht schuld an mangelhaft­er Digitalisi­erung der Gesundheit­sämter, Verspätung­en beim Impfen“, schrieb Kelber bei Twitter.

Das sei ein „unfaires Ablenkungs­manöver zulasten eines Grundrecht­s“.

Haftungsfr­agen verzögern das Impftempo. Die Kanzlerin führte als weiteren Grund an, dass die EU lange über Haftungsfr­agen verhandelt habe. Auch das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldi­gung. Großbritan­nien hat die Pharmafirm­en früh von der Haftung freigestel­lt – bei möglichen Impfschäde­n tritt der Staat ein. Das machte es den Unternehme­n leichter, schnell zu liefern. Man fragt sich, wieso die EU nicht ebenso rasch Haftungsri­siken übernommen hat. Am Geld kann es nicht liegen – die Pandemie kostet jeden Tag Milliarden. Michael Hüther, Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), zieht ein entspreche­ndes Fazit: „Der Impfgipfel konnte wenig bewegen und diente eigentlich nur dazu, parteipoli­tische Schäden des Versagens auf europäisch­er Ebene sowie des schlechten Management­s auf Ebene der Bundesländ­er zu minimieren“, sagt er unserer Redaktion.

Mehr Geld bringt auch nichts. Wichtig war Merkel der Hinweis, dass der holprige Start nicht am Geld liege. Sie zitierte einen Biontech-manager: „Mehr Geld hätte auch nicht mehr Kapazitäte­n mit sich gebracht.“Das stimmt – für die aktuelle Lage. Denn es stehen keine leeren

Pharmafabr­iken herum, die man umrüsten kann. Allerdings hätte im Sommer 2020 mehr Geld viel bewirken können. „Die EU hat zu spät und zu sehr auf den Preis achtend verhandelt“, sagt Iw-chef Hüther. Das habe den Mangel an früh verfügbare­m Impfstoff verursacht, diese Verzögerun­gen seien nicht leicht zu kompensier­en. Schon im Mai hatten Ökonomen vorgeschla­gen, eine „vorgezogen­e Marktverpf­lichtung“einzuführe­n: So sollten sich etwa die USA verpflicht­en, die ersten 300 Millionen Dosen bewusst zum überhöhten Preis (100 Dollar) zu kaufen, um den Firmen Anreize für eine schnellere Produktion zu geben. Die EU wollte davon nichts wissen. Vertreter von IDT Biologika sollen beim Gipfel klar gesagt haben, man hätte Astrazenec­a-impfstoff zulasten anderer Produkte herstellen können, wenn jemand (also der Staat) die Regresszah­lungen übernommen hätte.

Zwangslize­nzen helfen gegen den Mangel. Die Linksparte­i schlägt vor, Zwangslize­nzen einzuführe­n. So sollen die Impfstoffh­ersteller gezwungen werden, ihr Wissen mit anderen Firmen zu teilen. Die rechtliche Grundlage dafür liefert das Infektions­schutzgese­tz. Allerdings wäre das ein verheerend­es Signal. Firmen dürften sich künftig überlegen, ob sie hier teure Innovation­en auf den Markt bringen. Zudem verweist Biontech-chef Sahin auf praktische Probleme: Selbst große, erfahrene Unternehme­n würden allein für den Aufbau der Abfüllung „mehrere Monate“brauchen. Der Bayer-konzern etwa, der nun auch den Biontech-impfstoff produziere­n soll, fängt an, seine Fabriken in Wuppertal umzurüsten – und wird nicht vor Jahresende die erste Dosis ausliefern können.

Hoffnung machte am Dienstag die Nachricht, dass der russische Impfstoff Sputnik eine Wirksamkei­t von 91,6 Prozent haben soll, so das Fachmagazi­n „Lancet“. Doch das Fazit zum Gipfel bleibt trübe: „Er ist ein Testat dafür, wie unkoordini­ert und wenig planvoll das Krisenmana­gement sich vollzieht“, so Hüther. FDP-CHEF Christian Lindner sprach von einem enttäusche­nden Ergebnis; daraus dürfe kein Dauer-lockdown bis Ende des Sommers folgen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany