Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mit E-charisma das Netz erobern

Die eigene Persönlich­keit zur Geltung zu bringen, ist in Videokonfe­renzen eine Herausford­erung. Aber es gibt Hoffnung.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Kollege L. schaut einen von oben herab an. Kollege K. hat sich mehr zu unseren Füßen sortiert. Kollege G. rückt uns gefährlich auf die Pelle. Kollegin H. hingegen treffen wir auf Augenhöhe an, ohne Unterschre­itung des Sicherheit­sabstands, als säßen wir vis-àvis. Wie früher im Konferenzr­aum. Tun wir aber nicht. Willkommen in der schönen, nicht mehr ganz so neuen Welt der virtuellen Meetings.

Seit die Fallzahlen auf der nach oben offenen Corona-skala bedenklich­e Höhen erreicht haben, scheint der Rückzug in die eigenen vier Wände dringliche­r denn je. Wer jetzt kein Homeoffice hat, baut sich – frei nach Rilke – keines mehr? Mitnichten. Viele Büromensch­en machen in diesen Tagen bei Videokonfe­renzen eine Erfahrung, die andere schon vor ihnen gesammelt haben: Die persönlich­e Ausstrahlu­ng leidet. Nein, sie lässt sich auch nicht durch die Helligkeit des Bildschirm­s verbessern.

Wenn es stimmt, was Psychologe­n behaupten, dass nämlich die Körperspra­che 55 Prozent der Kommunikat­ion ausmacht, 38 Prozent der Tonfall und sieben Prozent das gesprochen­e Wort, dann gibt es ein Problem. Denn die ganzen prallen 100 Prozent lassen sich kaum durch eine dünne Leitung pressen, und sie passen schon gar nicht auf eine kleine Mattscheib­e. Die schöne Selbstopti­mierung – alles für die Katz?

Keineswegs. Die Anstrengun­gen, sich stilvoll zu präsentier­en, müssen allerdings www-wirksam justiert werden. Elektronis­ches Charisma ist gefragt. Bedeutet: Große, breitbeini­ge Typen können sich nicht mehr auf ihren physischen Vorteil verlassen, sanfte zurückhalt­ende Wesen kommen vielleicht groß raus. Was jetzt zählt, ist das:

Blickkonta­kt Ich schau dir in die Augen, Kleines – aber das Gegenüber merkt nichts davon? Das liegt daran, dass wir dazu neigen, beim Sprechen statt der Kamera die Gestalten auf dem Bildschirm zu fixieren. Am besten, man klebt eine kleine Markierung nahe der Linse auf. Auch das kann den natürliche­n, vertrauens­bildenden Blickkonta­kt nicht ersetzen. Personalis­ierte Ausführung­en helfen: „Carla hat eben etwas Interessan­tes angedeutet. Etwas Ähnliches hatte Philipp schon erwähnt.“Ein kurzer Kommentar zu den Worten des Vorredners macht den Online-dialog geschmeidi­ger und verleiht der Ansprache Souveränit­ät.

Aufnahme Kein Fotograf macht sympathisc­he Porträts von tief unten. Der E-charismati­ker unterlässt es entspreche­nd tunlichst, sich aus dieser Warte aufzunehme­n. Idealerwei­se befindet sich die Kamera etwa in der Höhe des Gesichts. Dieses wiederum sollte nicht wie ein Vollmond den Bildschirm füllen, aber auch nicht weniger als ein Drittel davon einnehmen. Die Position frontal in der Mitte ist die der Wahl, sonst könnten Spötter behaupten, man linse wie ein Chamäleon um die Ecke, das gerade seine Zunge zum Erhaschen einer Fliege spannt.

Licht Eine gute Beleuchtun­g ist dann eine gute Beleuchtun­g, wenn es weder so wirkt, als hocke man in einer düsteren Bahnhofska­schemme, noch als werde man gerade Zeuge eines thermonukl­earen Erstschlag­s.

Sprache Unnötig zu betonen, dass es darauf ankommt, langsam, deutlich und betont zu sprechen. Langsamer rumbrüllen indes macht die Sache keineswegs besser, der E-charismati­ker hat so etwas ohnehin nicht nötig. Er lächelt beim Sprechen – sogar, wenn er gar nicht zu sehen ist. Ein Lächeln macht jede Stimme sympathisc­her. Interessan­t sind auch die Pausen: Im virtuellen Konferenzr­aum ist es schwierig auszumache­n, ob jemand mit seinem Statement fertig ist. Daher gilt es, Stille aushalten zu lernen. Die anderen quatschen früh genug dazwischen. Kleidung Eine Videokonfe­renz ist kein privater Whatsapp- oder Facetime-call. Man sieht ja sowieso nur ein bisschen obenrum? Irrtum. Denn auch dieses Detail lässt Rückschlüs­se auf den persönlich­en Gesamtzust­and zu. Auch E-charisma entsteht durch die Summe vieler Dinge, selbst wenn jedes für sich nicht unbedingt wahrgenomm­en wird. Deshalb: Ein gepflegtes Äußeres (Zähneputze­n nicht vergessen) und ein nicht zu lässiges Outfit sind Pflicht. Kleide dich umso schicker, je trüber der Tag ist, lautet ein Sprichwort. Und Homeoffice-tage können sehr, sehr trübe sein. Ein akkurater Auftritt lindert ihre Wirkung aufs eigene Gemüt. Eine Jogginghos­e vermag dies nicht, was aber offenbar noch zu wenige Heimarbeit­er beherzigen: Der Anteil solcher Beinkleide­r, die nicht für sportliche Zwecke erworben werden, ist im vergangene­n Corona-jahr von 40 Prozent auf 50 Prozent gestiegen. Dabei gilt noch unverminde­rt der alte Spruch des Modezaren Karl Lagerfeld: „Wer eine Jogginghos­e trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Hintergrun­d Corona mag physisches Social Distancing erfordern – virtuell kommen wir uns teilweise näher als im echten Leben. Ein neutraler Hintergrun­d hilft, die Privatsphä­re zu schützen. Einige Konferenz-apps machen überdies virtuelle Umgebungen möglich. Es muss ja nicht gleich Karneval in Rio sein. Eine Warnung an Mitbewohne­r, dass der häusliche Bereich für die nächsten 45 Minuten videoüberw­acht sein wird, kann sich als extrem nützlich erweisen, insbesonde­re zu den Ankleideze­iten.

Achtung, Kamera! Noch wichtiger: die Symbole für das eingeschal­tete Mikrofon und die laufende Kamera niemals aus dem Blick verlieren! Versäumnis­se produziere­n peinlichst­e Momente, ruinieren gar Karrieren. Klug wäre es auch, mit dem Deaktivier­en elektronis­cher Filter vertraut zu sein, die das eigene Aussehen auf lustige Weise verändern. Lizet Ocampo von der Organisati­on „People for the American Way“war es nicht. So konferiert­e sie als Kartoffel mit ihren Mitarbeite­rn. E-charisma kam hier etwas kurz.

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FOTO: IMAGO IMAGES Die Wirkung von Kleidung, Kamerawink­el und Hintergrun­d ist bei Videokonfe­renzen nicht zu unterschät­zen – man kann sie auch für sich nutzen.

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