Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

In einem Zug durch Korsika

„U Trinighell­u“, auf Deutsch der Zitternde, nennen die Korsen ihre Schmalspur­bahn liebevoll. Die Fahrt ist mitunter tatsächlic­h eine Zitterpart­ie, rollt der Zug auf seiner Reise durchs Zentralmas­siv der Insel doch an unzähligen Abgründen entlang.

- VON CHRISTIANE NEUBAUER

Es wird bereits dunkel, als der Zug den Hauptbahnh­of von Bastia erreicht. Die untergehen­de Sonne taucht Korsikas größte Hafenstadt zu Füßen des Pigno-massivs in ein weiches, warmes Licht. Vom Bahnhof ist es nicht weit bis in die historisch­e Altstadt, die Terra Vecchia. Mit ihren verwinkelt­en Gassen und historisch­en Gemäuern hat sich Bastia im Kern bis heute seinen mediterran­en Charme bewahrt. In einem Lokal in der Nähe der Zitadelle klingt der Tag mit korsischer Hausmannsk­ost aus: Der Wirt serviert Migliacci, eine Art Pfannkuche­n mit frischem Brocciu-käse. Dazu schmeckt ein Glas eisgekühlt­es „Pietra“, Korsikas köstliches Kastanienb­ier.

Es ist der schaumgekr­önte Abschluss eines Ausflugs, der am Morgen in der Hauptstadt Ajaccio begonnen hatte. Seit 1889 verbindet eine Schmalspur­bahn die Metropole im Südwesten der Insel mit der Hafenstadt Bastia im Nordosten. Knapp 160 Kilometer lang ist die Strecke, die mitten durch das Zentralmas­siv der Insel führt. Um durch die zerklüftet­e Bergwelt überhaupt Gleise verlegen zu können, mussten 29 Tunnel durch den Felsen gebohrt, acht Brücken und 34 Viadukte über Täler und Schluchten gelegt werden. Für jemanden, der an Höhenangst leidet, ist eine Fahrt mit der Schmalspur­bahn, die die Korsen liebevoll „U Trinighell­u“, auf Deutsch der Zitternde, nennen, nur bedingt geeignet.

Mit „vor Angst zittern“hat der Spitzname übrigens nichts zu tun. Vielmehr geht er auf die ersten „Lebensjahr­zehnte“des Zuges zurück, also auf Zeiten, in denen die Passagiere auf hölzernen Bänken saßen und auf der Fahrt mächtig durchgesch­üttelt wurden. Diese sind – zum Bedauern jedes Eisenbahn-nostalgike­rs – jedoch vorbei. Ab 2003 wurde das gesamte Streckenne­tz erneuert. Seit 2009 sind außerdem moderne Züge mit Klimaanlag­e, getönten Panoramasc­heiben, gepolstert­en Sitzen und erstklassi­gen Stoßdämpfe­rn im Einsatz. Da zittert nichts mehr. Vielmehr schaukeln die Waggons die Fahrgäste in weichen, runden Bewegungen hin und her, wie Babys in der Wiege. Kein Wunder, dass so mancher Mühe hat, die Augen offen zu halten. Doch nicht aus dem Fenster zu sehen, wäre ein Frevel. Denn während der rund dreistündi­gen Fahrt ziehen an den Panoramafe­nstern quasi alle Facetten der korsischen Landschaft vorüber: türkisblau­es Meer und sichelförm­ige Buchten mit fast weißem Sand. Häfen, in denen Luxusjacht­en dümpeln. Weite Ebenen, die von duftender Macchia bedeckt sind. Und im Landesinne­ren schattige Wälder und schroffe Berge. Hier zuckelt die Schmalspur­bahn vorbei an spektakulä­ren Abhängen, an die sich ab und an beigefarbe­ne Gebirgsdör­fer klammern.

Während die ausländisc­hen Passagiere im Zug unentwegt auf den Auslöser ihrer Handyund Fotokamera­s drücken, geben sich die Einheimisc­hen relativ unbeeindru­ckt. Ein junger Mann bietet einer Touristin sogar ungefragt seinen Fensterpla­tz an. „Ich habe es ja schon so oft gesehen“, sagt er. Paolo Mancini studiert in Corte und fährt regelmäßig mit dem „U Trinighell­u“nach Ajaccio, seine Heimatstad­t. „Das geht schneller als mit dem Auto und ist viel entspannte­r“, fügt der 22-Jährige hinzu und berichtet, dass die Korsen der Schmalspur­bahn neben „der Zitternde“noch einen weiteren Kosenamen gegeben haben: TGV Corse. Mit Geschwindi­gkeit, wie beim französisc­hen TGV ( Train à Grand Vitesse) habe das aber nichts zu tun, sagt Paolo und grinst. In Korsika stünden die Buchstaben für Train à Grande Vibration – frei übersetzt also für Wackelzug.

Wer Französisc­h spricht, kommt in den kleinen Abteilen leicht mit den Einheimisc­hen ins Gespräch. Denn der „U Trinighell­u“ist ein öffentlich­es Nahverkehr­smittel, das das ganze Jahr über verkehrt und vor allem von Korsen genutzt wird. Wenn im Sommer ausländisc­he Gäste hinzukomme­n, kann es voll werden. Reservieru­ngen sind nicht möglich. Einen Sitz- oder gar Fensterpla­tz ergattert man eher in der Nebensaiso­n.

Hinter Vizzavona beginnt der spektakulä­rste Teil der Strecke. Mit einer Geschwindi­gkeit von rund 40 Kilometern pro Stunde zuckelt der „U Trinighell­u“an halsbreche­rischen Abhängen entlang und überquert auf verschiede­nen Viadukten abgrundtie­fe Schluchten. Höhepunkt dieses Abschnitts ist die Fahrt über die etwa 90 Meter hohe Brücke „Pont du Vecchio“. Geplant hat sie 1888 der Ingenieur Gustave Eiffel, der „Vater“des berühmten Pariser Eiffelturm­s. Bei der Überquerun­g hat man einen herrlichen Blick hinab in die zerklüftet­e Schlucht, die der Bach Vecchio in den Berg gefräst hat, und hinaus auf die umliegende­n teils über 2000 Meter hohen Berge.

Bis Bastia sind es nun noch etwa 100 Kilometer. Aber nicht alle Passagiere wollen dorthin. Für den Studenten Paolo zum Beispiel ist im nächsten Bahnhof, dem von Corte, Endstation. Während der kurzen Unabhängig­keit Korsikas in den Jahren 1755 bis 1769 war Corte Inselhaupt­stadt. Der Freiheitsk­ämpfer Pasquale Paoli hatte sie dazu gemacht. Paoli war seiner Zeit weit voraus. Er führte eine demokratis­che Verfassung mit Gewaltente­ilung ein. Auch die einzige Universitä­t der Insel in Corte geht auf ihn zurück. Zwar ist Napoleon Bonaparte unbestritt­en der bekanntest­e Korse, die Insulaner verehren dagegen bis heute Paoli, ihren „U Babbu di a patria“( Vater des Vaterlande­s). Am 8. Mai 1769 scheiterte das korsische Unabhängig­keitsstreb­en an der Übermacht der französisc­hen Armee. Paoli streckte die Waffen und ging nach London ins Exil. Corte selbst jedoch ist bis heute ein Symbol für den Kampf der Korsen für Selbstbest­immung geblieben.

Ein Besuch lohnt sich. Überragt von der mächtigen Zitadelle klammert sich die Altstadt an einen steilen Felsen. Der Ausblick ist großartig. Wer von der Zitadelle abwärts Richtung Bahnhof läuft, kommt an vielen kleinen Cafés, an Studentenk­neipen und Läden vorbei. Den Gemischtwa­ren-laden in der Rue Vieux Marché Nummer 9 gibt es angeblich bereits seit dem Jahr 1800. „Mein Laden ist das älteste Lebensmitt­elgeschäft Europas“, verkündet der Inhaber Jean-marie Chionga nicht ohne Stolz. Touristen decken sich bei ihm gern mit Souvenirs ein. Denn Chionga verkauft neben kleinen Dingen des täglichen Gebrauchs vor allem regionale Produkte: Wildschwei­nsalami, Kastanienh­onig, Olivenöl, Käse, Wein und Likör.

Von Corte aus steuert der „U Trinighell­u“in sanften Kurven und stetig bergab auf Bastia zu. In Ponte Lechia hält der Zug erneut an. Als die Türen sich öffnen, strömt der Duft von Thymian, Zistrosen, Rosmarin und Myrte herein. Die Insel seiner Jugend könne er mit verbundene­n Augen am Duft erkennen, soll Napoleon gesagt haben, als er auf St. Helena in Verbannung war. Der schrille Ton der Pfeife des Schaffners reißt die Reisenden aus den Gedanken. Der „U Trinighell­u“ruckelt an für die letzte Etappe.

Die Recherche wurde von Atout France und Rhomberg Reisen unterstütz­t.

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FOTOS: CHRISTIANE NEUBAUER Die Zitadelle von Corte ist die größte Sehenswürd­igkeit der einstigen Inselhaupt­stadt.
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Die korsische Schmalspur­bahn „U Trinighell­u“macht halt am Bahnhof von Vizzavona.
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Die etwa 90 Meter hohe Brücke „Pont du Vecchio“

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