Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
In einem Zug durch Korsika
„U Trinighellu“, auf Deutsch der Zitternde, nennen die Korsen ihre Schmalspurbahn liebevoll. Die Fahrt ist mitunter tatsächlich eine Zitterpartie, rollt der Zug auf seiner Reise durchs Zentralmassiv der Insel doch an unzähligen Abgründen entlang.
Es wird bereits dunkel, als der Zug den Hauptbahnhof von Bastia erreicht. Die untergehende Sonne taucht Korsikas größte Hafenstadt zu Füßen des Pigno-massivs in ein weiches, warmes Licht. Vom Bahnhof ist es nicht weit bis in die historische Altstadt, die Terra Vecchia. Mit ihren verwinkelten Gassen und historischen Gemäuern hat sich Bastia im Kern bis heute seinen mediterranen Charme bewahrt. In einem Lokal in der Nähe der Zitadelle klingt der Tag mit korsischer Hausmannskost aus: Der Wirt serviert Migliacci, eine Art Pfannkuchen mit frischem Brocciu-käse. Dazu schmeckt ein Glas eisgekühltes „Pietra“, Korsikas köstliches Kastanienbier.
Es ist der schaumgekrönte Abschluss eines Ausflugs, der am Morgen in der Hauptstadt Ajaccio begonnen hatte. Seit 1889 verbindet eine Schmalspurbahn die Metropole im Südwesten der Insel mit der Hafenstadt Bastia im Nordosten. Knapp 160 Kilometer lang ist die Strecke, die mitten durch das Zentralmassiv der Insel führt. Um durch die zerklüftete Bergwelt überhaupt Gleise verlegen zu können, mussten 29 Tunnel durch den Felsen gebohrt, acht Brücken und 34 Viadukte über Täler und Schluchten gelegt werden. Für jemanden, der an Höhenangst leidet, ist eine Fahrt mit der Schmalspurbahn, die die Korsen liebevoll „U Trinighellu“, auf Deutsch der Zitternde, nennen, nur bedingt geeignet.
Mit „vor Angst zittern“hat der Spitzname übrigens nichts zu tun. Vielmehr geht er auf die ersten „Lebensjahrzehnte“des Zuges zurück, also auf Zeiten, in denen die Passagiere auf hölzernen Bänken saßen und auf der Fahrt mächtig durchgeschüttelt wurden. Diese sind – zum Bedauern jedes Eisenbahn-nostalgikers – jedoch vorbei. Ab 2003 wurde das gesamte Streckennetz erneuert. Seit 2009 sind außerdem moderne Züge mit Klimaanlage, getönten Panoramascheiben, gepolsterten Sitzen und erstklassigen Stoßdämpfern im Einsatz. Da zittert nichts mehr. Vielmehr schaukeln die Waggons die Fahrgäste in weichen, runden Bewegungen hin und her, wie Babys in der Wiege. Kein Wunder, dass so mancher Mühe hat, die Augen offen zu halten. Doch nicht aus dem Fenster zu sehen, wäre ein Frevel. Denn während der rund dreistündigen Fahrt ziehen an den Panoramafenstern quasi alle Facetten der korsischen Landschaft vorüber: türkisblaues Meer und sichelförmige Buchten mit fast weißem Sand. Häfen, in denen Luxusjachten dümpeln. Weite Ebenen, die von duftender Macchia bedeckt sind. Und im Landesinneren schattige Wälder und schroffe Berge. Hier zuckelt die Schmalspurbahn vorbei an spektakulären Abhängen, an die sich ab und an beigefarbene Gebirgsdörfer klammern.
Während die ausländischen Passagiere im Zug unentwegt auf den Auslöser ihrer Handyund Fotokameras drücken, geben sich die Einheimischen relativ unbeeindruckt. Ein junger Mann bietet einer Touristin sogar ungefragt seinen Fensterplatz an. „Ich habe es ja schon so oft gesehen“, sagt er. Paolo Mancini studiert in Corte und fährt regelmäßig mit dem „U Trinighellu“nach Ajaccio, seine Heimatstadt. „Das geht schneller als mit dem Auto und ist viel entspannter“, fügt der 22-Jährige hinzu und berichtet, dass die Korsen der Schmalspurbahn neben „der Zitternde“noch einen weiteren Kosenamen gegeben haben: TGV Corse. Mit Geschwindigkeit, wie beim französischen TGV ( Train à Grand Vitesse) habe das aber nichts zu tun, sagt Paolo und grinst. In Korsika stünden die Buchstaben für Train à Grande Vibration – frei übersetzt also für Wackelzug.
Wer Französisch spricht, kommt in den kleinen Abteilen leicht mit den Einheimischen ins Gespräch. Denn der „U Trinighellu“ist ein öffentliches Nahverkehrsmittel, das das ganze Jahr über verkehrt und vor allem von Korsen genutzt wird. Wenn im Sommer ausländische Gäste hinzukommen, kann es voll werden. Reservierungen sind nicht möglich. Einen Sitz- oder gar Fensterplatz ergattert man eher in der Nebensaison.
Hinter Vizzavona beginnt der spektakulärste Teil der Strecke. Mit einer Geschwindigkeit von rund 40 Kilometern pro Stunde zuckelt der „U Trinighellu“an halsbrecherischen Abhängen entlang und überquert auf verschiedenen Viadukten abgrundtiefe Schluchten. Höhepunkt dieses Abschnitts ist die Fahrt über die etwa 90 Meter hohe Brücke „Pont du Vecchio“. Geplant hat sie 1888 der Ingenieur Gustave Eiffel, der „Vater“des berühmten Pariser Eiffelturms. Bei der Überquerung hat man einen herrlichen Blick hinab in die zerklüftete Schlucht, die der Bach Vecchio in den Berg gefräst hat, und hinaus auf die umliegenden teils über 2000 Meter hohen Berge.
Bis Bastia sind es nun noch etwa 100 Kilometer. Aber nicht alle Passagiere wollen dorthin. Für den Studenten Paolo zum Beispiel ist im nächsten Bahnhof, dem von Corte, Endstation. Während der kurzen Unabhängigkeit Korsikas in den Jahren 1755 bis 1769 war Corte Inselhauptstadt. Der Freiheitskämpfer Pasquale Paoli hatte sie dazu gemacht. Paoli war seiner Zeit weit voraus. Er führte eine demokratische Verfassung mit Gewaltenteilung ein. Auch die einzige Universität der Insel in Corte geht auf ihn zurück. Zwar ist Napoleon Bonaparte unbestritten der bekannteste Korse, die Insulaner verehren dagegen bis heute Paoli, ihren „U Babbu di a patria“( Vater des Vaterlandes). Am 8. Mai 1769 scheiterte das korsische Unabhängigkeitsstreben an der Übermacht der französischen Armee. Paoli streckte die Waffen und ging nach London ins Exil. Corte selbst jedoch ist bis heute ein Symbol für den Kampf der Korsen für Selbstbestimmung geblieben.
Ein Besuch lohnt sich. Überragt von der mächtigen Zitadelle klammert sich die Altstadt an einen steilen Felsen. Der Ausblick ist großartig. Wer von der Zitadelle abwärts Richtung Bahnhof läuft, kommt an vielen kleinen Cafés, an Studentenkneipen und Läden vorbei. Den Gemischtwaren-laden in der Rue Vieux Marché Nummer 9 gibt es angeblich bereits seit dem Jahr 1800. „Mein Laden ist das älteste Lebensmittelgeschäft Europas“, verkündet der Inhaber Jean-marie Chionga nicht ohne Stolz. Touristen decken sich bei ihm gern mit Souvenirs ein. Denn Chionga verkauft neben kleinen Dingen des täglichen Gebrauchs vor allem regionale Produkte: Wildschweinsalami, Kastanienhonig, Olivenöl, Käse, Wein und Likör.
Von Corte aus steuert der „U Trinighellu“in sanften Kurven und stetig bergab auf Bastia zu. In Ponte Lechia hält der Zug erneut an. Als die Türen sich öffnen, strömt der Duft von Thymian, Zistrosen, Rosmarin und Myrte herein. Die Insel seiner Jugend könne er mit verbundenen Augen am Duft erkennen, soll Napoleon gesagt haben, als er auf St. Helena in Verbannung war. Der schrille Ton der Pfeife des Schaffners reißt die Reisenden aus den Gedanken. Der „U Trinighellu“ruckelt an für die letzte Etappe.
Die Recherche wurde von Atout France und Rhomberg Reisen unterstützt.