Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein Haus, ein Paar, eine Nacht
Der Film „Malcolm & Marie“ist ein sehenswertes Beziehungsdrama, ein Oscar-kandidat sogar. Dabei wurde das Projekt aus der Not geboren.
Dass Not erfinderisch macht, ist eine Lebensweisheit, die sich in der Pandemie auf vielfältige Weise bestätigt hat. Das gilt auch für die Filmproduktion, deren Langzeitplanungen durch Lockdown und Hygieneverordnungen im vergangenen Jahr mehrfach über den Haufen geworfen wurden. So erging es auch Regisseur Sam Levinson, als die Dreharbeiten zur zweiten Staffel der Hbo-serie „Euphoria“im Frühjahr wenige Tage vor Beginn coronabedingt abgesagt werden mussten. Um zumindest einen Teil von Cast und Crew beschäftigen zu können, arbeitete Levinson innerhalb weniger Wochen ein Drehbuch aus, das unter den eingeschränkten Bedingungen realisierbar erschien. Ein Haus, ein Paar, eine Nacht, lautete die enge Vorgabe, die mit einer kleinen Crew von 20 Personen in ein filmisches Format gebracht werden sollte.
So wie einst die dänischen Dogma-rebellen Thomas Vinterberg („Das Fest“) oder Lars von Trier („Idioten“) in den 90er-jahren die Vereinfachung der Produktionsbedingungen als einen Akt der Selbstbefreiung feierten, erhebt nun mit Levinsons „Malcolm & Marie“auch der Us-amerikanische Film im Pandemie-zeitalter die Reduktion zur Tugend. Dass sich aus der notgedrungenen Beschränkung eine ganz eigene Komplexität, Intensität und Intimität entwickeln lässt, beweist dieses Beziehungsdrama auf eindrucksvolle Weise.
Tief in der Nacht bahnt sich das Auto seinen Weg zum Strandhaus. Malcolm ( John David Washington) und Marie (Zendaya) kommen in feinster Abendgarderobe von einer Premieren-party. Während seine Lebensgefährtin gleich im Bad verschwindet, spielt Malcolm Musik ein und tanzt leicht angetrunken durch das Wohnzimmer. Sein Film wurde von Publikum und Pressevertretern gefeiert und wird ihm als Regisseur den lang ersehnten Karrieredurchbruch verschaffen. Aber Marie ist nicht nach After Party zumute.
Auf der Bühne hat Malcolm sich in seiner Ansprache fast bei jedem Crew-mitglied namentlich bedankt, aber nicht bei seiner Lebensgefährtin. Marie hat nicht nur jede einzelne Drehbuchseite mit ihm durchdiskutiert und Malcolm im gemeinsamen Lebensalltag den Rücken freigehalten. Die Story des Films um eine afroamerikanische Drogenabhängige, die versucht, von ihrer Sucht loszukommen, basiert zum größten Teil auf Maries eigenen, schmerzhaften Erlebnissen. Malcolm, der ihr damals half, clean zu werden, hat ihr Schicksal als Inspirationsquelle benutzt.
Natürlich hätte Marie die Erste sein müssen, bei der er sich öffentlich bedankt. Ein Versehen, behauptet Malcolm, aber die Ursachen für die vermeintliche Vergesslichkeit liegen sehr viel tiefer in der Beziehungsstruktur begraben. Und die wird in den folgenden, hochspannenden 100 Filmminuten Schicht um Schicht freigelegt.
Die beiden schenken sich in ihren gegenseitigen Anklagen, Liebesgeständnissen und unerbittlichen Analysen nichts. Das Auf und Ab ihrer Gefühle entwickelt eine dramatische Dynamik, der man sich schwer entziehen kann. Dabei geht es nicht nur um ungesunde Abhängigkeitsverhältnisse und emotionale Ignoranz in der Paarbeziehung, sondern auch um den Preis der Kreativität, den Narzissmus des Filmschaffenden und den strukturellen Rassismus, mit dem ein afroamerikanischer Regisseur in der Us-industrie konfrontiert ist.
Immer, wenn man glaubt, nun sei alles gesagt, und das Paar müsse sich in die Arme fallen oder für immer auseinandergehen, wird eine Schicht tiefer gegraben und eine neue Ebene des Konflikts freigelegt. Dabei entwickelt Levinson einen schwingenden Erzählrhythmus, der Atempausen, Momente der Verbundenheit und sexuellen Anziehung schafft, bevor es in die nächste Gefechtszone geht. Neben dem dynamisch strukturierten Drehbuch, das die emotionale Achterbahnfahrt nur an einigen wenigen Punkten übersteuert, sind es vor allem die schauspielerischen Leistungen, die dieses rasant-intime Kammerspiel mit Spannung aufladen.
Zendaya, die ihre Karriere als Teenie-star bei Disney begann und als Sängerin weiterführte, ist herausragend in der Rolle einer tief verletzten Frau, die ihren Schmerz nicht nur in Wut, sondern auch in eine Fähigkeit zur beißenden Analyse ihres Gegenübers kanalisiert. Aber auch „Tenet“-hauptdarsteller Washington füllt die Rolle des selbstbezogenen Filmregisseurs mit einer überzeugenden Mischung aus Aggressivität und Feingefühl aus, ohne die Figur ans Stereotyp des männlichen Unsympathen zu verraten.
Darüber hinaus entwickelt „Malcolm & Marie“eine visuelle Brillanz, wie man sie von einem Kammerspiel nicht erwartet hätte. In stilvollen Schwarz-weiß-aufnahmen findet Kameramann Marcell Rév („Euphoria“) in dem von Glaswänden durchzogenen Strandhaus immer neue Sichtachsen und Blickwinkel, ohne die Konzentration auf die beiden Figuren zu verlieren.
Bei den Oscar-nominierungen Mitte März dürfte dieser Film nicht leer ausgehen. Schließlich wirft „Malcolm & Marie“auch einen unbarmherzigen Blick auf die verkrustete Seele der eigenen Branche – und in Hollywood ist man einer masochistischen Selbstbespiegelung nie abgeneigt.