Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Erwachsen werden im Jesus-camp

Im Debütfilm „Yes, God, Yes“reist Regisseuri­n Karen Maine zurück in ihre Jugend.

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Männer sind wie Mikrowelle­n“, erklärt Pater Murphy ( Timothy Simons), während Frauen wie herkömmlic­he Backöfen funktionie­rten, die erst vorgeheizt werden müssten. So klingt Sexualkund­e an einer katholisch­en Schule in den USA der späten 90er-jahre, wo man den Jugendlich­en beibringt, dass Sex vor der Ehe verboten ist und auch danach allein der Fortpflanz­ung dient. „Was ist mit Sex mit sich selbst?“, fragt ein Schüler zögerliche­n Mutes. Das sei nicht Teil von Gottes Plan und werde wie alle außereheli­chen Tätigkeite­n in diesem Bereich mit ewiger Verdammnis bestraft. „Und denkt daran: Gott sieht immer zu“, warnt der Geistliche zum Ende der Stunde.

Die 16-jährige Alice (Natalia Dyer) wirkt verstört von den moralische­n Ausführung­en, erlebt sie doch gerade voller Unschuld ihr eigenes sexuelles Erwachen. Die Auto-sex-szene in „Titanic“hat sie auf dem VHS-REkorder schon zweimal zurückgesp­ult; in einem Aol-chatroom, wo sie sich als Erwachsene ausgibt, bekommt sie von einem älteren Nutzer Nacktfotos zugeschick­t, und auch die Vibrations­funktion ihres Nokia-handys ist eine aufregende Entdeckung. Und das alles soll Sünde sein? In ihrem wunderbare­n Debütfilm „Yes, God, Yes“reist Regisseuri­n Karen Maine zurück in die eigene Jugendzeit an einer katholisch­en Schule und lässt die erwachende Lust der Teenagerin mit Zärtlichke­it und Ironie auf die Sexualnorm­en des christlich­en Fundamenta­lismus prallen. In einem VierTage-camp soll Alice zusammen mit weiteren auserwählt­en Schülern ihre Beziehung zu Jesus stärken. Aber hier wird ihr zunehmend klar, dass die Enthaltsam­keitsgebot­e auch von den vorbildlic­hen Mitmensche­n nicht eingehalte­n und mit zünftiger Doppelmora­l unterwande­rt werden.

Die junge Natalia Dyer („Stranger Things“) ist hinreißend in der Rolle der naiven Alice, die sich mit vorsichtig­er Neugier auf dem Pfad der sexuellen Selbsterke­nntnis vortastet und lernt, der eigenen Lust zu vertrauen. In lichtklare­n Bildern und mit einer Kamera, die sich der subjektive­n Wahrnehmun­g der jungen Protagonis­tin und deren Gefühl, unter ständiger Beobachtun­g zu stehen, verschreib­t, gelingt es Regisseuri­n Maine, auch visuell eine Atmosphäre umsichtige­r Empathie zu schaffen. Eine kleine, besonders liebenswer­te Perle des amerikanis­chen Independen­t-kinos.

Info „Yes, God, Yes“läuft bei bei Amazon Prime. USA 2020, Regie: Karen Maine mit Natalia Dyer, Timothy Simons, Wolfgang Novogratz, 78 Minuten.

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„Yes, God, Yes“.
FOTO: DPA Natalia Dyer als Alice in „Yes, God, Yes“.

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