Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Ich kann auch ohne das Etikett Volkspartei leben“
JESSICA ROSENTHAL (SPD) Die neue Juso-chefin über fehlende Schulkonzepte in der Pandemie, die große Koalition und die plötzliche Unterstützung der Jusos für Olaf Scholz.
Frau Rosenthal, Sie sind Lehrerin. Wo hakt es in dieser Pandemie derzeit am meisten an den Schulen? JESSICA ROSENTHAL Es gibt seitens der Landesbildungsministerien weder einheitliche Konzepte noch besondere Unterstützung vor Ort, die über ein paar technische Hilfen hinausgingen. Beispielsweise sind Kinder, die sich mit mehreren Geschwistern ein Zimmer oder ein Endgerät teilen müssen, derzeit kaum in der Lage, den Schulstoff abzuarbeiten. Das sorgt für massive Ungleichheiten beim Lernfortschritt, die sich über Jahre fortsetzen werden.
Was braucht es aus Ihrer Sicht? ROSENTHAL Mehr Mut zu kreativen
Lösungen. Junge oder benachteiligte Schülerinnen und Schüler oder Schulen ohne digitale Ausstattung sollten schnellstmöglich in Kleingruppen von vier Schülerinnen und Schülern aufgeteilt werden und auch bei höheren Inzidenzwerten über den Tag gestaffelt Präsenzunterricht erhalten. Außerdem brauchen wir einen Fonds von Bund und Ländern, der unbürokratisch Mittel bereitstellt, damit die Schulen kurzfristig mehr Personal bekommen können. Und zwar nicht nur für die Zeit der Pandemie. Ich rede von ein bis zwei Jahren, in denen die Klassen geteilt und mit mehr Lehrkräften eng betreut werden, um den liegengebliebenen Stoff aufzuholen.
Es ist Jahre her, dass die SPD in den Umfragen mal bei etwa 20 Prozent lag. Was macht die Spitze falsch? ROSENTHALDAFÜR sind nicht nur einzelne Personen wie die Parteiführung verantwortlich. Ich sehe den Hauptgrund für die schlechten Zustimmungswerte in der großen Koalition. Die SPD ist Motor des Bündnisses und hat alle wesentlichen Projekte wie die Grundrente, die Frauenquote oder das Kurzarbeitergeld eingebracht, der Erfolg wird aber der Union und insbesondere der Kanzlerin zugeschrieben. Das wurmt mich.
Ist die SPD bei so schlechten Umfragen und Wahlergebnissen überhaupt noch eine Volkspartei?
ROSENTHAL Der SPD täte es gut, diesen Begriff nicht wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Ich kann auch ohne das Etikett Volkspartei leben. Wichtig ist doch aber der inhaltliche Anspruch, mit unseren Positionen auch künftig Politik für die Breite der Gesellschaft zu machen, die endlich mehr Gerechtigkeit verdient hat und vom Fortschritt profitieren soll.
Die Jusos haben sich immer an Olaf Scholz gerieben, es gab offene Ablehnung, scharfe Kritik. Sie machen sich doch völlig unglaubwürdig, wenn Sie für ihn im Wahlkampf plakatieren gehen.
ROSENTHAL Wir bleiben als Jusos klar bei unseren inhaltlichen Positionen, über die wir mit einigen in der Partei – auch mit Olaf Scholz – natürlich auch gestritten haben. Aber die SPD hat sich in unsere Richtung verändert. Wir sind heute eine gerade inhaltlich besser aufgestellte Partei. Auch Olaf Scholz nimmt diese Veränderung wahr und handelt danach. Das beweist auch sein Corona-krisenmanagement. Ich bin beispielsweise zuversichtlich, dass auch er sich für ein Aussetzen der Schuldenbremse aussprechen wird. Dieses Instrument braucht es nicht mehr, stattdessen viel mehr Investitionen in die Zukunft. Für diese Positionen mache ich sehr gerne Wahlkampf, weil sie insbesondere für junge Menschen entscheidend sind.