Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
''Das kann man allen zumeten''
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats spricht über Sonderregelungen für geimpfte Menschen. Diese sollen weiter Masken tragen und Abstand halten.
Je länger der Corona-lockdown andauert, desto größer werden Ermüdung und Frust in der Bevölkerung. Zwar geht es mit dem Impfen bisher nur schleppend voran, doch wird bereits kontrovers über mögliche Lockerungen für geimpfte Menschen diskutiert. Aus ethischer Sicht eine heikle Frage. Im Interview mit unserer Redaktion will die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, Ordnung in die Debatte bringen. Sie sagt aber auch: „Wir sind keine Ad-hoc-beratungsbude.“
Frau Buyx, im Mai 2020, mitten in der Pandemie, wurden Sie zur Vorsitzenden des Ethikrats gewählt. Ethische Fragen finden in der Breite der Gesellschaft Beachtung wie nie. Wie blicken Sie auf diese Zeit?
Es ist gerade eine sehr herausfordernde und anstrengende Zeit – für uns alle. Da ist die Vorsitzende des Ethikrats auch betroffen, zum Beispiel im Spagat zwischen Homeschooling und Homeoffice, wobei es viele andere Menschen sehr viel schwerer haben. Für den Ethikrat war das eine Zeit, in der er mehr Aufmerksamkeit erfahren hat als zuvor, jedenfalls in der Öffentlichkeit. In der Politik sind wir eigentlich immer gut wahrgenommen worden. Die insgesamt erhöhte Beachtung ist für den Ethikrat gut – und trotzdem wünscht man sich natürlich nicht so einen Anlass.
Der Corona-frust in der Bevölkerung wächst, ebenso die Sehnsucht nach mehr Freiheiten. Unter welchen Bedingungen halten Sie Sonderregelungen für Geimpfte für zulässig?
Die wesentliche Bedingung ist zuallererst, dass wir bessere und sicherere Erkenntnisse darüber haben, inwieweit geimpfte Menschen noch ansteckend sind. Zum Zweiten sollte geprüft werden, ob staatliche Freiheitsbeschränkungen nicht schon für alle Menschen aufgehoben werden können. Das kann der Fall sein, wenn das Impfen schon weit fortgeschritten ist, wie wir es in einigen Ländern bereits sehen. Als Ethikrat sagen wir: Wenn die gravierenden Folgen wie hohe Sterblichkeit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigung vieler Menschen oder der drohende Kollaps des Gesundheitssystems eingefangen sind, dann müssten die Maßnahmen für alle aufgehoben werden. Denn diese schwerwiegenden Folgen sind ja der Grund, der die harten Einschnitte rechtfertigt.
Sie sagen „Wenn…, dann…“. Stellt sich die Frage nach Sonderregelungen jetzt überhaupt schon?
Sie haben nach den Voraussetzungen gefragt und dabei sind die genannten Punkte wichtig. Wir gehen aber davon aus, dass belastbare Daten zur Infektiosität von Geimpften erst vorhanden sein werden, wenn die Beschränkungen ohnehin aufgehoben werden können. Inzwischen gibt es ja verschiedene Impfstoffe, die sich in mehreren Hinsichten unterscheiden. Es wird sich also noch eine ganze Weile hinziehen, bis es da eine gesicherte Datenbasis gibt. Trotzdem ist es nachvollziehbar, dass Menschen bereits jetzt über Möglichkeiten nachdenken, dass zumindest einige von uns aus diesem ermüdenden Zustand herauskommen. Und es gibt ja auch schon konkrete Überlegungen, zuletzt von einem Konzertveranstalter. Daher fanden wir es durchaus an der Zeit, etwas ethische Orientierung zu bieten.
Könnten sich die Sonderregelungen in der Praxis erübrigen, weil die Pandemie bis dahin im Griff ist?
Das wäre die Hoffnung. Wir sagen auf jeden Fall, dass gegenwärtig eine individuelle Lockerung der staatlichen Freiheitseinschränkungen nicht in Betracht kommt. In unserer Analyse haben wir festgestellt, dass ein gesicherter Wissensstand wahrscheinlich noch so lange dauern wird, dass wir schon Effekte des Impfens sehen werden. Dann würden schrittweise Maßnahmen für alle aufgehoben. Eine vorherige individuelle Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen nur für geimpfte Menschen ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn gesichert wäre, dass sie das Virus nicht mehr weiterverbreiten können. Und da kommt noch ein Aber: Dann müsste gleichzeitig geprüft werden und es müssten Vorkehrungen getroffen werden, dass es nicht zu Ungerechtigkeiten und negativen Folgen für die Akzeptanz des Impfprogramms kommt.
Unter diesen Bedingungen könnten alle Beschränkungen für Geimpfte fallen?
Das ist ein wichtiger Punkt: Bei wenig eingriffsintensiven Maßnahmen, also Abstand, Maske, Händewaschen, plädieren wir dafür, diese auch für Geimpfte beizubehalten. Das kann man allen zumuten, solange man es braucht. Ausnahmen zu machen, könnte für Unruhe sorgen, auch weil diese Maßnahmen in der Öffentlichkeit so sichtbar sind. Bei den harten Freiheitsbeschränkungen durch den Staat, wenn sie dann überhaupt noch notwendig sind, wären wie gesagt kontroverse Fragen der Gerechtigkeit und Akzeptanz noch zu klären.
Besonders Gefährdete, etwa Ältere, Pflegeheimbewohner und Vorerkrankte, werden zuerst geimpft. Müssen Sie sich dennoch lange mit harten Beschränkungen abfinden?
Wir sehen große Herausforderungen in Pflege-, Senioren-, Behinderten- und Hospizeinrichtungen. Sie sind durch Kontaktbeschränkungen und Isolation besonders lange und besonders stark belastet. Hier könnte man mit Augenmaß die starken Einschränkungen für Geimpfte aufheben. Vorab müsste aber genau geprüft werden, wie man dann dort mit einzelnen Personen umgeht, die noch nicht geimpft sind, und etwa eine Trennung von den Geimpften erwägen.
Außenminister Heiko Maas ist dafür, Geimpften früher den Besuch von Restaurants oder Kinos zu erlauben. Unterstützung bekam er von Justizministerin Christine Lambrecht (beide SPD). Halten Sie es für problematisch, wenn sich Mitglieder der Bundesregierung in dieser Frage positionieren?
Ich maße mir nicht an zu beurteilen, wer sich für was aussprechen sollte. Es gehört zu einer lebendigen öffentlichen Diskussion, dass sich Politiker äußern, zumal zu so neuen und kontroversen Fragen. Wir als Ethikrat wollten hier vor allem Ordnung in die Debatte bringen.
Die Positionen des Ethikrats fließen in weitreichende politische Entscheidungen ein. Erhöht das nicht enorm den Druck?
Wir haben im Ethikrat schon immer ein hohes Verantwortungsgefühl in unsere Arbeit eingebracht. Das passiert einfach, wenn man sich mit ethischen Fragen auseinandersetzt. Es geht oft um die ganz großen Themen: um Menschen, um Leben und Tod, Grenzfragen und Grenzziehungen. Deswegen haben wir uns auch vorher schon unter Druck gesetzt. In Gedanken muss man sich frei machen von einem etwaigen politischen Auftrag oder der öffentlichen Erwartung, das ist ganz wichtig. Aber ich will offen sagen: Natürlich sind die vielen Anfragen insofern nicht spurlos an uns vorübergegangen, als dieser Rat wie verrückt arbeitet. Ich muss mal loswerden, dass wir wirklich fleißig sind (lacht). Vielen ist nicht bewusst, dass wir ein ehrenamtliches Gremium sind und keine Ad-hoc-beratungsbude. Das Tempo, mit dem wir Empfehlungen vorlegen, gab es so noch nicht. Das liegt vor allem daran, dass alle Ratsmitglieder eine hohe Verantwortung spüren und den Wunsch, das beizutragen, was man kann.