Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wie Spaziergänge zum Ereignis werden
ESSAY Früher fand ich Flanieren langweilig. Inzwischen freue ich mich auf 10.000 Schritte täglich – weil man allein ist und doch in Gesellschaft. Weil man auf Ideen kommt. Und weil es gesund ist natürlich. Es gibt nur ein Problem.
Manchmal verabrede ich mich mit einem Freund zu einem abendlichen „Spa-bier-gang“. Bevor wir starten und am Rhein flanieren, kaufen wir am Büdchen eine Flasche Flensburger. Wir lassen den Verschluss ploppen, prosten uns zu und fühlen uns für einen Moment wie die kernigen Kerle in der Werbung. Nur dass unser letzter Friseurbesuch viel länger zurückliegt.
Ich gehe neuerdings viel spazieren. Früher fand ich das langweilig. Aber seit Corona der Welt gezeigt hat, was wirkliche Langeweile ist, wirken meine täglichen Ausflüge geradezu aufregend. Sie lassen es zumindest weniger sinnlos erscheinen, dass ich mich morgens anziehe. Und rasiere. Sie sind mein Catwalk. Meine Flucht aus dem Kontakt-overkill der Kleinfamilie im Lockdown. Eine Pause von den elektronisch gefilterten Stimmen der Videokonferenzen nebenan. Von dem irren Tastaturgeklapper aus dem zur Zockerhölle gewordenen Kinderzimmer. Von Diskussionen über Themen wie: warum Zwölfjährige nicht mit Kopfhörern am Abendbrottisch sitzen sollten.
Spazierengehen ist ein bisschen wie Reisen. Ich bin mir bewusst, wie bemitleidenswert dieser Satz klingen wird, wenn es wieder möglich ist, weit weg zu fahren. Aber derzeit bleibt einem ja sonst nur das Bad im Wörtersee der Literatur oder der Ausflug in die Sofalandschaft. Aus Verzweiflung schauen wir neuerdings diese Fernweh-reportagen auf 3Sat und Servus TV: Malediven, Marokko und Alpenschamanen aus Österreich. Aber das ist natürlich nur Ersatz. Also rausgehen: allein sein und doch in Gesellschaft. Unter Leuten und trotzdem nicht in der Gruppe.
Meistens gehe ich tatsächlich alleine. Ich fahre nie mit dem Auto oder Fahrrad irgendwohin, um von dort loszuwandern. Ich starte einfach von zu Hause. Am schönsten ist es morgens. Sonnenaufgang am Rhein. Noch ungeduscht und daran denkend, dass ich die zwei Mohnbrötchen nicht vergessen darf, deretwegen ich offiziell aufgebrochen war. Meistens gehe ich aber abends. Nicht so gerne durch die Straßen, weil ich es traurig finde, wenn die Leute ihre Rollläden herunterlassen, während ich vorbeigehe. Lieber am Wasser. Irgendwann kommt der Moment, da sich die Gedanken vom Alltag verabschieden und so schön dizzy diffundieren. Ich gehe einfach, atme, spinne herum und komme auf Ideen. Oft brummt dann das Handy in der Jackentasche: „Kannst du Zahnseide-sticks von DM mitbringen?“
Gehen hilft gegen Verspannungen und Depressionen. Es ist gut für den Kreislauf. Man kommt zur Ruhe, Blutdruck und Stresslevel sinken. Bei Sonnenlicht wirkt es wie eine Vitamin-d-infusion. Alles wissenschaftlich belegt. Eine amerikanische Studie mit Rentnern ergab: Die Gruppe, die täglich kaum bis gar nicht ging, hatte nach zwölf Jahren eine doppelt so hohe Mortalitätsrate wie die, die jeden Tag etwa 10.000 Schritte unterwegs war. Jeder Schritt ein Beitrag zur Lebensversicherung also. So stelle ich mir das vor. So rede ich mir das schön.
Ich versuche, jeden Tag 10.000 Schritte zu gehen. Das Problem dabei ist der zeitliche Aufwand. Die eineinhalb bis zwei Stunden muss man im Tag unterbringen können. Und, ja: Ich weiß, dass die Zahl 10.000 eine Erfindung der Werbeindustrie ist. 1964 nutzte die Firma Yamasa den Hype um die Olympischen Spiele in Japan und brachte den ersten transportablen Schrittzähler auf den Markt, den „Manpo-kei“, was übersetzt so viel heißt wie: der 10.000-Schritt-zähler. Selbst die Weltgesundheitsorganisation übernahm dieses Maß. Medizinische Studien ergaben allerdings, dass schon 4000 Schritte täglich lebensverlängernde Wirkung haben können. Alles richtig macht man mit 7500.
Die „Health“-app meines Handys zählt meine Schritte automatisch. Das ist ein bisschen unromantisch, andererseits ein guter Ansporn. Ich gehe zudem ziemlich schnell, merke das aber erst, wenn ich beim „Spa-bier-gang“darauf aufmerksam gemacht werde: So kann man ja gar nicht im Gehen trinken! Ich fühle mich selbst eher wie die Flaneure auf den impressionistischen Gemälden. Von den Dandys hieß es ja, sie gingen so langsam, weil sie das Tempo von den Schildkröten bestimmen ließen, die sie an einer Leine mit sich führten. Für die Flaneure in Paris war diese zur Schau gestellte Langeweile das ultimative Statussymbol: schreiten statt schuften. Bei mir ist es zwar eher das Schreiten nach dem Schuften, aber manchmal überkommt mich auch so ein Glamour-bedürfnis. Dann kaufe ich auf dem Heimweg bei Edeka Champagnertrüffel von Sarotti. Die heißen „Ti amo“. Zusätzlicher Nutzen: Der Name öffnet der After-walk-romantik Tür und Tor.
„Himmlisch schön und gut und uralt einfach ist es ja, zu Fuß zu gehen“, schreibt Robert Walser in seiner tollen Erzählung „Der Spaziergang“. Lustig ist es außerdem. Zu den besten Momenten am Spazierengehen gehören für mich die, in denen ich Sätze aus den Gesprächen anderer Leute aufschnappe. Die zwei Frauen zum Beispiel, die am Freitagabend mit flachen Kartons aus der Pizzeria traten. Sagte die eine zur anderen: „Jetzt hol ich Pizza, dabei würde ich viel lieber auf den Dancefloor.“Weltklasse-satz, Pandemie in einer Nussschale. Weniger lustig, dafür umso faszinierender das Gespräch der Joggerinnen, die an mir vorbeizischten: „Geht nicht mehr, ich trenne mich jetzt.“– „Echt?“
Spazierengehen. Da passiert was. Noch mal Robert Walser: „Bald trat ich wieder ins helle Freie hinaus und ins Leben.“
„Himmlisch schön und gut und uralt einfach ist es ja, zu Fuß zu gehen“Robert Walser „Der Spaziergang“