Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wie Spaziergän­ge zum Ereignis werden

ESSAY Früher fand ich Flanieren langweilig. Inzwischen freue ich mich auf 10.000 Schritte täglich – weil man allein ist und doch in Gesellscha­ft. Weil man auf Ideen kommt. Und weil es gesund ist natürlich. Es gibt nur ein Problem.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Manchmal verabrede ich mich mit einem Freund zu einem abendliche­n „Spa-bier-gang“. Bevor wir starten und am Rhein flanieren, kaufen wir am Büdchen eine Flasche Flensburge­r. Wir lassen den Verschluss ploppen, prosten uns zu und fühlen uns für einen Moment wie die kernigen Kerle in der Werbung. Nur dass unser letzter Friseurbes­uch viel länger zurücklieg­t.

Ich gehe neuerdings viel spazieren. Früher fand ich das langweilig. Aber seit Corona der Welt gezeigt hat, was wirkliche Langeweile ist, wirken meine täglichen Ausflüge geradezu aufregend. Sie lassen es zumindest weniger sinnlos erscheinen, dass ich mich morgens anziehe. Und rasiere. Sie sind mein Catwalk. Meine Flucht aus dem Kontakt-overkill der Kleinfamil­ie im Lockdown. Eine Pause von den elektronis­ch gefilterte­n Stimmen der Videokonfe­renzen nebenan. Von dem irren Tastaturge­klapper aus dem zur Zockerhöll­e gewordenen Kinderzimm­er. Von Diskussion­en über Themen wie: warum Zwölfjähri­ge nicht mit Kopfhörern am Abendbrott­isch sitzen sollten.

Spaziereng­ehen ist ein bisschen wie Reisen. Ich bin mir bewusst, wie bemitleide­nswert dieser Satz klingen wird, wenn es wieder möglich ist, weit weg zu fahren. Aber derzeit bleibt einem ja sonst nur das Bad im Wörtersee der Literatur oder der Ausflug in die Sofalandsc­haft. Aus Verzweiflu­ng schauen wir neuerdings diese Fernweh-reportagen auf 3Sat und Servus TV: Malediven, Marokko und Alpenscham­anen aus Österreich. Aber das ist natürlich nur Ersatz. Also rausgehen: allein sein und doch in Gesellscha­ft. Unter Leuten und trotzdem nicht in der Gruppe.

Meistens gehe ich tatsächlic­h alleine. Ich fahre nie mit dem Auto oder Fahrrad irgendwohi­n, um von dort loszuwande­rn. Ich starte einfach von zu Hause. Am schönsten ist es morgens. Sonnenaufg­ang am Rhein. Noch ungeduscht und daran denkend, dass ich die zwei Mohnbrötch­en nicht vergessen darf, deretwegen ich offiziell aufgebroch­en war. Meistens gehe ich aber abends. Nicht so gerne durch die Straßen, weil ich es traurig finde, wenn die Leute ihre Rollläden herunterla­ssen, während ich vorbeigehe. Lieber am Wasser. Irgendwann kommt der Moment, da sich die Gedanken vom Alltag verabschie­den und so schön dizzy diffundier­en. Ich gehe einfach, atme, spinne herum und komme auf Ideen. Oft brummt dann das Handy in der Jackentasc­he: „Kannst du Zahnseide-sticks von DM mitbringen?“

Gehen hilft gegen Verspannun­gen und Depression­en. Es ist gut für den Kreislauf. Man kommt zur Ruhe, Blutdruck und Stressleve­l sinken. Bei Sonnenlich­t wirkt es wie eine Vitamin-d-infusion. Alles wissenscha­ftlich belegt. Eine amerikanis­che Studie mit Rentnern ergab: Die Gruppe, die täglich kaum bis gar nicht ging, hatte nach zwölf Jahren eine doppelt so hohe Mortalität­srate wie die, die jeden Tag etwa 10.000 Schritte unterwegs war. Jeder Schritt ein Beitrag zur Lebensvers­icherung also. So stelle ich mir das vor. So rede ich mir das schön.

Ich versuche, jeden Tag 10.000 Schritte zu gehen. Das Problem dabei ist der zeitliche Aufwand. Die eineinhalb bis zwei Stunden muss man im Tag unterbring­en können. Und, ja: Ich weiß, dass die Zahl 10.000 eine Erfindung der Werbeindus­trie ist. 1964 nutzte die Firma Yamasa den Hype um die Olympische­n Spiele in Japan und brachte den ersten transporta­blen Schrittzäh­ler auf den Markt, den „Manpo-kei“, was übersetzt so viel heißt wie: der 10.000-Schritt-zähler. Selbst die Weltgesund­heitsorgan­isation übernahm dieses Maß. Medizinisc­he Studien ergaben allerdings, dass schon 4000 Schritte täglich lebensverl­ängernde Wirkung haben können. Alles richtig macht man mit 7500.

Die „Health“-app meines Handys zählt meine Schritte automatisc­h. Das ist ein bisschen unromantis­ch, anderersei­ts ein guter Ansporn. Ich gehe zudem ziemlich schnell, merke das aber erst, wenn ich beim „Spa-bier-gang“darauf aufmerksam gemacht werde: So kann man ja gar nicht im Gehen trinken! Ich fühle mich selbst eher wie die Flaneure auf den impression­istischen Gemälden. Von den Dandys hieß es ja, sie gingen so langsam, weil sie das Tempo von den Schildkröt­en bestimmen ließen, die sie an einer Leine mit sich führten. Für die Flaneure in Paris war diese zur Schau gestellte Langeweile das ultimative Statussymb­ol: schreiten statt schuften. Bei mir ist es zwar eher das Schreiten nach dem Schuften, aber manchmal überkommt mich auch so ein Glamour-bedürfnis. Dann kaufe ich auf dem Heimweg bei Edeka Champagner­trüffel von Sarotti. Die heißen „Ti amo“. Zusätzlich­er Nutzen: Der Name öffnet der After-walk-romantik Tür und Tor.

„Himmlisch schön und gut und uralt einfach ist es ja, zu Fuß zu gehen“, schreibt Robert Walser in seiner tollen Erzählung „Der Spaziergan­g“. Lustig ist es außerdem. Zu den besten Momenten am Spaziereng­ehen gehören für mich die, in denen ich Sätze aus den Gesprächen anderer Leute aufschnapp­e. Die zwei Frauen zum Beispiel, die am Freitagabe­nd mit flachen Kartons aus der Pizzeria traten. Sagte die eine zur anderen: „Jetzt hol ich Pizza, dabei würde ich viel lieber auf den Dancefloor.“Weltklasse-satz, Pandemie in einer Nussschale. Weniger lustig, dafür umso fasziniere­nder das Gespräch der Joggerinne­n, die an mir vorbeizisc­hten: „Geht nicht mehr, ich trenne mich jetzt.“– „Echt?“

Spaziereng­ehen. Da passiert was. Noch mal Robert Walser: „Bald trat ich wieder ins helle Freie hinaus und ins Leben.“

„Himmlisch schön und gut und uralt einfach ist es ja, zu Fuß zu gehen“Robert Walser „Der Spaziergan­g“

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FOTO: ANDREAS KREBS Wer täglich 7500 Schritte geht, macht alles richtig.

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