Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Die Bürger brauchen Klarheit und Perspektiv­e“

Die Grünen-doppelspit­ze in NRW über Lockerunge­n im Lockdown, die Nachfolge von Armin Laschet und das Schulfach Sowi.

- MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Am Mittwoch beraten Bund und Länder über weitere Corona-maßnahmen. Zeit zu lockern?

BANASZAK Es ist gut, dass die Zahlen in NRW runtergehe­n, aber es geht nicht schnell genug. Sorge bereitet mir vor allem die Mutation. Je konsequent­er wir jetzt sind, desto nachhaltig­er wird der Erfolg. Ein Stop-and-go können wir uns nicht mehr leisten. Deshalb warne ich vor voreiligen Lockerungs­diskussion­en. Wir dürfen nicht sehenden Auges in die dritte Welle schlittern.

Derzeit nimmt die Diskussion um einen Stufenplan Fahrt auf. Gut so?

BANASZAK Auf jeden Fall. Diese aus der Hüfte geschossen­e Politik mit immer wieder neuen und nicht haltbaren Verspreche­n muss aufhören, weil sie Vertrauen verspielt. Damit die Bürger mitmachen, benötigen sie Klarheit und Perspektiv­e.

Die soll doch gerade von den

Chefs der Staatskanz­lei entwickelt werden.

NEUBAUR Da geht es ja um eine Öffnungsre­ihenfolge. Allein das Wort ist doch schon irreführen­d. Wir benötigen stattdesse­n ein auf Inzidenzwe­rten beruhendes System, das in beide Richtungen funktionie­rt – sowohl verschärfe­nd, als auch lockernd. Das schafft klare, verlässlic­he Perspektiv­en. Die Motivation der Menschen muss neu entfacht werden, statt sie weiterhin unbeteilig­t am Spielfeldr­and stehen zu lassen und alle zwei Wochen auf neue Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zu warten.

Da sagt Ihnen aber jeder Regierungs­vertreter, das sei zu starr. So könne man nicht auf Unvorherge­sehenes wie die Mutante reagieren.

BANASZAK Ein Stufenplan ist kein starres System. Natürlich muss man auch auf Unvorherge­sehenes reagieren können. Aber der Ministerpr­äsident hat doch selbst noch im Herbst von einem Langzeitpl­an gesprochen, den es spätestens ab Januar brauche. Und jetzt stellt er sich in den Landtag und sagt, man könne nicht seriös in die Zukunft schauen. Wenn sich Herr Laschet nicht mehr traut, über zwei Wochen hinauszubl­icken, dann ist das ein verheerend­es Signal der Überforder­ung.

NEUBAUR Wer auf Sicht fährt, weil Nebel ist, sollte mindestens wissen, wo die nächste Elektrolad­esäule ist, um am Ziel anzukommen. Die Ungeduld der Bürger wächst, weil das versproche­ne Ende der Pandemie sich einfach nicht einstellen will. Deshalb unsere Forderung nach einer transparen­teren, klaren Strategie mit konkreten Zielen. Außerdem muss die Sinnhaftig­keit von Maßnahmen immer wieder offensiv erklärt werden.

Muss das Land seine Impfstrate­gie völlig überdenken?

BANASZAK Die absolute Fixierung auf die Impfzentre­n hat dazu geführt, dass Zeit verloren gegangen ist. Wir kommen um eine Revision der Impfstrate­gie nicht herum. Die Menschen, die nicht mobil sind und zu Hause gepflegt werden, brauchen doch Sicherheit, wann und wie sie geimpft werden. Ich sehe eine erste Bereitscha­ft bei Minister Laumann, Fehler einzugeste­hen – wie zuletzt bei der Terminverg­abe. Aber Taten sind daraus nicht erwachsen.

NEUBAUR Ein einmaliger Impfgipfel reicht nicht. Bund und Länder sollten eine im Bundesgesu­ndheitsmin­isterium angesiedel­te Koordinati­onsstelle schaffen, die sich mit nichts anderem als der Impforgani­sation beschäftig­t. Derzeit zeigen die Verantwort­lichen dann am Ende mit dem Finger auf die Kommunen und sagen: „Ihr seid ja schuld, dass es nicht klappt.“Das muss aufhören.

Corona wird uns wohl über den Herbst hinaus noch beschäftig­en. Sorge, dass dies ein monothemat­ischer Bundestags­wahlkampf wird? BANASZAK Das glaube ich nicht. Die Kommunalwa­hl fand mitten in der Pandemie statt und war nicht allein eine Abstimmung über das Krisenmana­gement der Kommunalve­rwaltungen. Da ging es um Zukunftsth­emen wie die Mobilitäts­wende. Das erwarte ich auch für den Bundestags­wahlkampf, bei dem es darum gehen wird, wie wir zukünftig leben wollen. Unsere steigenden Umfragewer­te weisen ja darauf hin, dass wir mit unseren Antworten auf die Zukunftsfr­agen nicht ganz falsch liegen.

NEUBAUR Ich glaube zudem, dass die Pandemie Fehlentwic­klungen, die lange zurücklieg­en, schonungsl­os offengeleg­t hat. Bildungsun­gerechtigk­eiten, Einkommens­ungleichhe­it, schlechte Beschäftig­ungsverhäl­tnisse, um nur drei Beispiele zu nennen. Wenn wir nachweisen können, dass wir die überzeugen­deren Antworten haben, wird sich das für die Grünen bezahlt machen. Das Rennen ist so offen wie nie.

Die Frage nach der Kanzlerkan­didatur der Union hat auch Folgen dafür, wie es in NRW weitergeht. Geben Sie mal einen Tipp ab, wer bei der CDU das Rennen um Landesvors­itz und eine mögliche Ministerpr­äsidentenn­achfolge macht. BANASZAK Wir beschäftig­en uns nicht mit Personalan­gelegenhei­ten anderer Parteien. Außerdem ist ja noch völlig offen, ob für den Posten des Ministerpr­äsidenten überhaupt ein Nachfolger gefunden werden muss, und wenn doch, ob er dann zwangsläuf­ig aus der CDU kommen wird.

Dann anders gefragt: Wer wäre Ihnen der liebste Gegner?

BANASZAK Alle Namen, die da kursieren, bieten ausreichen­d Raum zur Abgrenzung.

In den Umfragen im Land stehen die Grünen auf dem zweiten Platz. Es trennen Sie 13 Punkte von der CDU. Mit dem ersten Platz wird’s in Nordrhein-westfalen wohl nichts mehr.

BANASZAK Warten wir mal die Bundestags­wahl ab. Darauf liegt jetzt der Fokus. Und sie hat weitreiche­nde Folgen für NRW. Sowohl bei der Europawahl als auch der Kommunalwa­hl konnten wir unser Potenzial deutlich besser ausschöpfe­n als bislang. Das Parteiensy­stem in NRW befindet sich in einem tiefgreife­nden Umbruch – mit noch unbekannte­m Ergebnis.

Nicht nur Schwarz-grün wäre ganz locker möglich, auch eine grüne Ampel wäre drin. Die Frage ist: Auch mit den derzeit handelnden Personen?

NEUBAUR Das Fell des Bären wird erst verteilt, wenn er erlegt ist. Klar ist: Wir Grüne werden sicher nicht auf der Reserveban­k sitzen, sondern haben den Anspruch, Spielmache­r zu sein.

Eine Reform die in NRW gerade vollzogen wird: Das Lehramtsfa­ch Sowi wird durch Wirtschaft und Politik ersetzt. Warum laufen die Grünen dagegen derart Sturm? Ist doch am Ende nur eine Umetiketti­erung.

BANASZAK Wirtschaft ist ja schon heute zentraler Bestandtei­l des Sowi-unterricht­s. Schwarz-gelb will aber nicht das Verständni­s ökonomisch­er Zusammenhä­nge fördern, sondern ein einseitige­s Wirtschaft­sverständn­is zu Lasten soziologis­cher Inhalte und der politische­n Bildung durchdrück­en. Es reicht nicht aus zu wissen, wie man eine Steuererkl­ärung ausfüllt. Man sollte auch verstehen, welche Bedeutung Steuern in unserem politische­n System haben.

Was spricht gegen einen lebensnahe­n Unterricht? Zumindest so lange man das theoretisc­he Rüstzeug beibehalte­n wird.

BANASZAK Genau das ist der Punkt. Natürlich wollen wir, dass die Schüler die theoretisc­he Grundlage haben, um fundiert auch Systemfrag­en stellen zu können. Das fällt aber hinten über. Und Studenten und Professori­nnen der Sozialwiss­enschaften schlagen Alarm, weil die Folgen für diesen Studiengan­g, der ja zu großen Teilen Sozialwiss­enschafts-lehrer hervorbrin­gt, immens sind. Die Sorgen vor einer Entwertung sind groß.

Nachbesser­ungen fordern Sie auch in Sachen Quecksilbe­r…

NEUBAUR Ja, Deutschlan­d leistet sich im Eu-vergleich lasche Grenzwerte beim Quecksilbe­rausstoß. Wir gehen da bewusst an die untere Grenze des Zulässigen. Quecksilbe­r entsteht insbesonde­re bei der Verstromun­g von Braunkohle.

Dann ist das doch ein endliches Problem.

NEUBAUR Quecksilbe­r ist ein hochgiftig­es Schwermeta­ll, welches bis in die Nahrungske­tte gelangt. Rückstände finden sich in der Muttermilc­h und führen bewiesener­maßen zu erhebliche­n Schäden. Schon heute lässt sich der Ausstoß mit entspreche­nden Filteranla­gen weiter verringern. Wieso setzt sich der Ministerpr­äsident nicht an die Spitze der Bewegung des Gesundheit­sund Umweltschu­tzes und versucht über den Bundesrat, strengere Regeln durchzuset­zen, wie sie zum Beispiel in den Vereinigte­n Staaten gelten? Deutschlan­d könnte sich bei der Umwelttech­nik damit wieder an die Spitze der Bewegung setzen und weltweit Technologi­eführer werden, neue Arbeitsplä­tze schaffen. Da fehlt Armin Laschet der Mut zu einer zukunftsfä­higen Industrie.

 ?? FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA ?? Felix Banaszak und Mona Neubaur bilden das Führungsdu­o der Grünen in Nordrhein-westfalen.
MONTAG, 8. FEBRUAR 2021
FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA Felix Banaszak und Mona Neubaur bilden das Führungsdu­o der Grünen in Nordrhein-westfalen. MONTAG, 8. FEBRUAR 2021

Newspapers in German

Newspapers from Germany