Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Die Bürger brauchen Klarheit und Perspektive“
Die Grünen-doppelspitze in NRW über Lockerungen im Lockdown, die Nachfolge von Armin Laschet und das Schulfach Sowi.
Am Mittwoch beraten Bund und Länder über weitere Corona-maßnahmen. Zeit zu lockern?
BANASZAK Es ist gut, dass die Zahlen in NRW runtergehen, aber es geht nicht schnell genug. Sorge bereitet mir vor allem die Mutation. Je konsequenter wir jetzt sind, desto nachhaltiger wird der Erfolg. Ein Stop-and-go können wir uns nicht mehr leisten. Deshalb warne ich vor voreiligen Lockerungsdiskussionen. Wir dürfen nicht sehenden Auges in die dritte Welle schlittern.
Derzeit nimmt die Diskussion um einen Stufenplan Fahrt auf. Gut so?
BANASZAK Auf jeden Fall. Diese aus der Hüfte geschossene Politik mit immer wieder neuen und nicht haltbaren Versprechen muss aufhören, weil sie Vertrauen verspielt. Damit die Bürger mitmachen, benötigen sie Klarheit und Perspektive.
Die soll doch gerade von den
Chefs der Staatskanzlei entwickelt werden.
NEUBAUR Da geht es ja um eine Öffnungsreihenfolge. Allein das Wort ist doch schon irreführend. Wir benötigen stattdessen ein auf Inzidenzwerten beruhendes System, das in beide Richtungen funktioniert – sowohl verschärfend, als auch lockernd. Das schafft klare, verlässliche Perspektiven. Die Motivation der Menschen muss neu entfacht werden, statt sie weiterhin unbeteiligt am Spielfeldrand stehen zu lassen und alle zwei Wochen auf neue Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zu warten.
Da sagt Ihnen aber jeder Regierungsvertreter, das sei zu starr. So könne man nicht auf Unvorhergesehenes wie die Mutante reagieren.
BANASZAK Ein Stufenplan ist kein starres System. Natürlich muss man auch auf Unvorhergesehenes reagieren können. Aber der Ministerpräsident hat doch selbst noch im Herbst von einem Langzeitplan gesprochen, den es spätestens ab Januar brauche. Und jetzt stellt er sich in den Landtag und sagt, man könne nicht seriös in die Zukunft schauen. Wenn sich Herr Laschet nicht mehr traut, über zwei Wochen hinauszublicken, dann ist das ein verheerendes Signal der Überforderung.
NEUBAUR Wer auf Sicht fährt, weil Nebel ist, sollte mindestens wissen, wo die nächste Elektroladesäule ist, um am Ziel anzukommen. Die Ungeduld der Bürger wächst, weil das versprochene Ende der Pandemie sich einfach nicht einstellen will. Deshalb unsere Forderung nach einer transparenteren, klaren Strategie mit konkreten Zielen. Außerdem muss die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen immer wieder offensiv erklärt werden.
Muss das Land seine Impfstrategie völlig überdenken?
BANASZAK Die absolute Fixierung auf die Impfzentren hat dazu geführt, dass Zeit verloren gegangen ist. Wir kommen um eine Revision der Impfstrategie nicht herum. Die Menschen, die nicht mobil sind und zu Hause gepflegt werden, brauchen doch Sicherheit, wann und wie sie geimpft werden. Ich sehe eine erste Bereitschaft bei Minister Laumann, Fehler einzugestehen – wie zuletzt bei der Terminvergabe. Aber Taten sind daraus nicht erwachsen.
NEUBAUR Ein einmaliger Impfgipfel reicht nicht. Bund und Länder sollten eine im Bundesgesundheitsministerium angesiedelte Koordinationsstelle schaffen, die sich mit nichts anderem als der Impforganisation beschäftigt. Derzeit zeigen die Verantwortlichen dann am Ende mit dem Finger auf die Kommunen und sagen: „Ihr seid ja schuld, dass es nicht klappt.“Das muss aufhören.
Corona wird uns wohl über den Herbst hinaus noch beschäftigen. Sorge, dass dies ein monothematischer Bundestagswahlkampf wird? BANASZAK Das glaube ich nicht. Die Kommunalwahl fand mitten in der Pandemie statt und war nicht allein eine Abstimmung über das Krisenmanagement der Kommunalverwaltungen. Da ging es um Zukunftsthemen wie die Mobilitätswende. Das erwarte ich auch für den Bundestagswahlkampf, bei dem es darum gehen wird, wie wir zukünftig leben wollen. Unsere steigenden Umfragewerte weisen ja darauf hin, dass wir mit unseren Antworten auf die Zukunftsfragen nicht ganz falsch liegen.
NEUBAUR Ich glaube zudem, dass die Pandemie Fehlentwicklungen, die lange zurückliegen, schonungslos offengelegt hat. Bildungsungerechtigkeiten, Einkommensungleichheit, schlechte Beschäftigungsverhältnisse, um nur drei Beispiele zu nennen. Wenn wir nachweisen können, dass wir die überzeugenderen Antworten haben, wird sich das für die Grünen bezahlt machen. Das Rennen ist so offen wie nie.
Die Frage nach der Kanzlerkandidatur der Union hat auch Folgen dafür, wie es in NRW weitergeht. Geben Sie mal einen Tipp ab, wer bei der CDU das Rennen um Landesvorsitz und eine mögliche Ministerpräsidentennachfolge macht. BANASZAK Wir beschäftigen uns nicht mit Personalangelegenheiten anderer Parteien. Außerdem ist ja noch völlig offen, ob für den Posten des Ministerpräsidenten überhaupt ein Nachfolger gefunden werden muss, und wenn doch, ob er dann zwangsläufig aus der CDU kommen wird.
Dann anders gefragt: Wer wäre Ihnen der liebste Gegner?
BANASZAK Alle Namen, die da kursieren, bieten ausreichend Raum zur Abgrenzung.
In den Umfragen im Land stehen die Grünen auf dem zweiten Platz. Es trennen Sie 13 Punkte von der CDU. Mit dem ersten Platz wird’s in Nordrhein-westfalen wohl nichts mehr.
BANASZAK Warten wir mal die Bundestagswahl ab. Darauf liegt jetzt der Fokus. Und sie hat weitreichende Folgen für NRW. Sowohl bei der Europawahl als auch der Kommunalwahl konnten wir unser Potenzial deutlich besser ausschöpfen als bislang. Das Parteiensystem in NRW befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch – mit noch unbekanntem Ergebnis.
Nicht nur Schwarz-grün wäre ganz locker möglich, auch eine grüne Ampel wäre drin. Die Frage ist: Auch mit den derzeit handelnden Personen?
NEUBAUR Das Fell des Bären wird erst verteilt, wenn er erlegt ist. Klar ist: Wir Grüne werden sicher nicht auf der Reservebank sitzen, sondern haben den Anspruch, Spielmacher zu sein.
Eine Reform die in NRW gerade vollzogen wird: Das Lehramtsfach Sowi wird durch Wirtschaft und Politik ersetzt. Warum laufen die Grünen dagegen derart Sturm? Ist doch am Ende nur eine Umetikettierung.
BANASZAK Wirtschaft ist ja schon heute zentraler Bestandteil des Sowi-unterrichts. Schwarz-gelb will aber nicht das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge fördern, sondern ein einseitiges Wirtschaftsverständnis zu Lasten soziologischer Inhalte und der politischen Bildung durchdrücken. Es reicht nicht aus zu wissen, wie man eine Steuererklärung ausfüllt. Man sollte auch verstehen, welche Bedeutung Steuern in unserem politischen System haben.
Was spricht gegen einen lebensnahen Unterricht? Zumindest so lange man das theoretische Rüstzeug beibehalten wird.
BANASZAK Genau das ist der Punkt. Natürlich wollen wir, dass die Schüler die theoretische Grundlage haben, um fundiert auch Systemfragen stellen zu können. Das fällt aber hinten über. Und Studenten und Professorinnen der Sozialwissenschaften schlagen Alarm, weil die Folgen für diesen Studiengang, der ja zu großen Teilen Sozialwissenschafts-lehrer hervorbringt, immens sind. Die Sorgen vor einer Entwertung sind groß.
Nachbesserungen fordern Sie auch in Sachen Quecksilber…
NEUBAUR Ja, Deutschland leistet sich im Eu-vergleich lasche Grenzwerte beim Quecksilberausstoß. Wir gehen da bewusst an die untere Grenze des Zulässigen. Quecksilber entsteht insbesondere bei der Verstromung von Braunkohle.
Dann ist das doch ein endliches Problem.
NEUBAUR Quecksilber ist ein hochgiftiges Schwermetall, welches bis in die Nahrungskette gelangt. Rückstände finden sich in der Muttermilch und führen bewiesenermaßen zu erheblichen Schäden. Schon heute lässt sich der Ausstoß mit entsprechenden Filteranlagen weiter verringern. Wieso setzt sich der Ministerpräsident nicht an die Spitze der Bewegung des Gesundheitsund Umweltschutzes und versucht über den Bundesrat, strengere Regeln durchzusetzen, wie sie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten gelten? Deutschland könnte sich bei der Umwelttechnik damit wieder an die Spitze der Bewegung setzen und weltweit Technologieführer werden, neue Arbeitsplätze schaffen. Da fehlt Armin Laschet der Mut zu einer zukunftsfähigen Industrie.