Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein Monat nach dem Sturm
Der Angriff auf das Kapitol wird aufgearbeitet. Ein Fünftel der mittlerweile rund 200 Festgenommenen war früher bei der Armee. Doch es gibt noch zu viele Puzzleteile.
WASHINGTON Die schwarzen Metallzäune sind immer noch da. Zweieinhalb Meter hoch, versehen mit Stacheldrahtrollen, sperren sie das Kapitol weiträumig ab. Seit vier Wochen markieren sie eine Bannmeile, wie sie die amerikanische Politik immer abgelehnt hatte, bis das Parlament von einem Mob gestürmt wurde. Ob und wann der kilometerlange Zaun wieder abgebaut wird, ob ihn andere, niedrigere Hindernisse ersetzen oder man doch zurückkehrt zu alten, im Großen und Ganzen barrierefreien Zeiten, darüber wird heftig gestritten. Geht es nach Yogananda Pittman, der amtierenden Chefin der Capitol Police, der Parlamentspolizei, soll aus dem Provisorium ein Dauerzustand werden, in welcher Höhe auch immer.
Dafür muss sich Pittman vorwerfen lassen, dass sie überreagiere. Schuld am blamablen Versagen der Sicherheitskräfte am 6. Januar, führen ihre Kritiker an, sei schließlich nicht das Fehlen von Barrieren gewesen, sondern eine zunächst überraschte und dann überaus schwerfällig reagierende Bürokratie. Warum es Stunden dauerte, bis die überrannten Verteidiger des Kapitols Verstärkung erhielten, ist mittlerweile geklärt. Willam Walker, der Kommandeur der Nationalgarde Washingtons, hat es minutengenau zu Protokoll gegeben. Demnach ging um 13.49 Uhr Ortszeit ein Hilferuf Steven Sunds, des inzwischen abgelösten Beamten an der Spitze der Capitol Police, bei ihm ein: Er möge schnellstens seine Leute schicken, die Meute sei drauf und dran, die Absperrungen zu durchbrechen. Walker aber musste erst im Pentagon um Erlaubnis bitten. Es vergingen 75 Minuten, ehe er von Ryan Mccarthy, dem zuständigen Staatssekretär, grünes Licht bekam.
Zumindest das weiß man inzwischen. Noch nicht abschließend beantwortet ist dagegen die Frage, was die Randalierer dazu brachte, Polizisten in die Flucht zu schlagen, mit Feuerlöschern nach ihnen zu werfen, mit Hockeyschlägern auf sie einzudreschen, Türen aufzubrechen und Fensterscheiben zu zertrümmern. War es eine Lawine der Gewalt, die plötzlich ins Rollen kam, nachdem Donald Trump dazu angestiftet hatte? Berauschte sich die
Menge an ihrer Macht? Oder war es ein Putschversuch? Gut vorbereitet, organisiert von Ex-soldaten? Was es bislang gibt, sind Puzzleteile, die sich vielleicht irgendwann, im Zuge anstehender Gerichtsverfahren, zu einem klaren Gesamtbild fügen.
Larry Rendall Brock, 53, ließ sich mit erkennbarem Stolz dabei filmen, wie er, in die Kammer des Senats eingedrungen, das Kommando führte. Wie er andere ermahnte, nicht alles kurz und klein zu schlagen, weil dies schließlich auch eine Pr-operation sei, bei der das eigene Image nicht beschädigt werden dürfe. Brock trug Helm und kugelsichere Weste. Außerdem hatte er Kabelbinder dabei, wie Polizisten sie benutzen, um Festgenommenen die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Er fühlte sich berufen, Politiker zu verhaften, sie womöglich zu entführen, vielleicht, um ein Erpressungsmittel in der Hand zu haben. Brock lebt in Texas, in Grapevine, einem Vorort von Dallas. Er war Oberstleutnant der Air Force, ein Pilot. Nach der Wahl Joe Bidens zum Präsidenten schrieb er bei Facebook, er sei bereit für „einen zweiten Bürgerkrieg“.
Thomas Caldwell, 66, aus dem ländlichen Virginia, gilt als einer der Anführer der „Oath Keepers“, einer 2009 gegründeten, rechtsextremen Miliz, in der sich ehemalige Militärs zusammengeschlossen haben. „Der Wasserkessel wird demnächst kochen“, schrieb er, so ist es in einer Klageschrift dokumentiert, am Silvestertag an seine Komplizen. Zu den „Oath Keepers“, die nach Washington fuhren, gehörte auch Jessica Watkins, eine 38-Jährige aus Ohio. „Wir haben eine gute Gruppe beisammen“, meldete sie, als die Belagerung des Parlaments begann. „Wir sind 30 bis 40 Leute. Wir bleiben zusammen und halten uns an den Plan.“Wie die Ermittler herausfanden, bediente sich Watkins der Handy-app Zello, mit deren Hilfe sich Mitglieder ihrer Miliz wie mit Walkie-talkies verständigen konnten.
Das lässt darauf schließen, dass zumindest ein harter Kern die Aktion gründlicher geplant hatte, als es angesichts chaotischer Szenen den Anschein hatte. Videoaufnahmen zeigen, wie sich ungefähr zehn „Oath Keepers“, alle behelmt, alle in Uniform, den Weg durch die Menschenmenge bahnten, bis sie ganz vorn standen, an einer Tür.
Von den rund 800 Personen, die sich Zugang zum Kapitol verschafften, wurde bis heute gegen 195 Klage erhoben. Von denen verfügt jeder Fünfte über militärische Erfahrung, was die Frage aufwirft, wie verbreitet rechtsextremes Gedankengut in der Berufsarmee der USA ist. Nach einer Übersicht der „Military Times“, der Zeitung der Streitkräfte, gab jeder dritte Soldat im aktiven Dienst an, er habe selbst erlebt, wie in den Reihen der Armee weißer Überlegenheitsdünkel zur Schau gestellt wurde. Von Hakenkreuzen auf Privatautos war die Rede, von rassistischen Tattoos, von Aufklebern, die den Ku-klux-klan feierten. Kein Wunder, dass der Artikel des Blatts, veröffentlicht im Jahr 2019, heute umso gründlicher gelesen wird.
So viel zum harten Kern. Andererseits sprechen Wissenschaftler der Universität Chicago von politischer Gewalt, zu der auch Hunderte bereit waren, die keine, zumindest keine bekannten, Kontakte zu rechtsradikalen Milizen hatten. Robert Pape und Keven Ruby haben, unterstützt von zwei Dutzend Mitarbeitern, in akribischer Kleinarbeit herauszufinden versucht, aus welchem sozialen Milieu die Randalierer stammen, deren Identität bereits ermittelt wurde. Der Befund, dozieren sie, lasse auf ein potenziell sehr viel größeres Problem schließen, als wenn es sich „nur“um eine Art paramilitärische Revolte gehandelt hätte. Zu großen Teilen habe der Mob nämlich aus „normalen“Trump-anhängern bestanden, aus Amerikanern der Mittelschicht. Zu 40 Prozent aus Leuten, die entweder eine Firma oder einen Laden besitzen oder als Ärzte, Rechtsanwälte, It-experten und Steuerberater gut verdienen. Etliche seien auch nicht in wirtschaftlichen Problemgebieten zuhause, etwa im Rostgürtel der alten Industrie, sondern in Metropolen wie New York, San Francisco oder Los Angeles.
„Wir sind 30 bis 40 Leute. Wir bleiben zusammen und halten uns an den Plan“Jessica Watkins Mitglied der rechten Miliz „Oath Keepers“