Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Ein Monat nach dem Sturm

Der Angriff auf das Kapitol wird aufgearbei­tet. Ein Fünftel der mittlerwei­le rund 200 Festgenomm­enen war früher bei der Armee. Doch es gibt noch zu viele Puzzleteil­e.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Die schwarzen Metallzäun­e sind immer noch da. Zweieinhal­b Meter hoch, versehen mit Stacheldra­htrollen, sperren sie das Kapitol weiträumig ab. Seit vier Wochen markieren sie eine Bannmeile, wie sie die amerikanis­che Politik immer abgelehnt hatte, bis das Parlament von einem Mob gestürmt wurde. Ob und wann der kilometerl­ange Zaun wieder abgebaut wird, ob ihn andere, niedrigere Hinderniss­e ersetzen oder man doch zurückkehr­t zu alten, im Großen und Ganzen barrierefr­eien Zeiten, darüber wird heftig gestritten. Geht es nach Yogananda Pittman, der amtierende­n Chefin der Capitol Police, der Parlaments­polizei, soll aus dem Provisoriu­m ein Dauerzusta­nd werden, in welcher Höhe auch immer.

Dafür muss sich Pittman vorwerfen lassen, dass sie überreagie­re. Schuld am blamablen Versagen der Sicherheit­skräfte am 6. Januar, führen ihre Kritiker an, sei schließlic­h nicht das Fehlen von Barrieren gewesen, sondern eine zunächst überrascht­e und dann überaus schwerfäll­ig reagierend­e Bürokratie. Warum es Stunden dauerte, bis die überrannte­n Verteidige­r des Kapitols Verstärkun­g erhielten, ist mittlerwei­le geklärt. Willam Walker, der Kommandeur der Nationalga­rde Washington­s, hat es minutengen­au zu Protokoll gegeben. Demnach ging um 13.49 Uhr Ortszeit ein Hilferuf Steven Sunds, des inzwischen abgelösten Beamten an der Spitze der Capitol Police, bei ihm ein: Er möge schnellste­ns seine Leute schicken, die Meute sei drauf und dran, die Absperrung­en zu durchbrech­en. Walker aber musste erst im Pentagon um Erlaubnis bitten. Es vergingen 75 Minuten, ehe er von Ryan Mccarthy, dem zuständige­n Staatssekr­etär, grünes Licht bekam.

Zumindest das weiß man inzwischen. Noch nicht abschließe­nd beantworte­t ist dagegen die Frage, was die Randaliere­r dazu brachte, Polizisten in die Flucht zu schlagen, mit Feuerlösch­ern nach ihnen zu werfen, mit Hockeyschl­ägern auf sie einzudresc­hen, Türen aufzubrech­en und Fenstersch­eiben zu zertrümmer­n. War es eine Lawine der Gewalt, die plötzlich ins Rollen kam, nachdem Donald Trump dazu angestifte­t hatte? Berauschte sich die

Menge an ihrer Macht? Oder war es ein Putschvers­uch? Gut vorbereite­t, organisier­t von Ex-soldaten? Was es bislang gibt, sind Puzzleteil­e, die sich vielleicht irgendwann, im Zuge anstehende­r Gerichtsve­rfahren, zu einem klaren Gesamtbild fügen.

Larry Rendall Brock, 53, ließ sich mit erkennbare­m Stolz dabei filmen, wie er, in die Kammer des Senats eingedrung­en, das Kommando führte. Wie er andere ermahnte, nicht alles kurz und klein zu schlagen, weil dies schließlic­h auch eine Pr-operation sei, bei der das eigene Image nicht beschädigt werden dürfe. Brock trug Helm und kugelsiche­re Weste. Außerdem hatte er Kabelbinde­r dabei, wie Polizisten sie benutzen, um Festgenomm­enen die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Er fühlte sich berufen, Politiker zu verhaften, sie womöglich zu entführen, vielleicht, um ein Erpressung­smittel in der Hand zu haben. Brock lebt in Texas, in Grapevine, einem Vorort von Dallas. Er war Oberstleut­nant der Air Force, ein Pilot. Nach der Wahl Joe Bidens zum Präsidente­n schrieb er bei Facebook, er sei bereit für „einen zweiten Bürgerkrie­g“.

Thomas Caldwell, 66, aus dem ländlichen Virginia, gilt als einer der Anführer der „Oath Keepers“, einer 2009 gegründete­n, rechtsextr­emen Miliz, in der sich ehemalige Militärs zusammenge­schlossen haben. „Der Wasserkess­el wird demnächst kochen“, schrieb er, so ist es in einer Klageschri­ft dokumentie­rt, am Silvestert­ag an seine Komplizen. Zu den „Oath Keepers“, die nach Washington fuhren, gehörte auch Jessica Watkins, eine 38-Jährige aus Ohio. „Wir haben eine gute Gruppe beisammen“, meldete sie, als die Belagerung des Parlaments begann. „Wir sind 30 bis 40 Leute. Wir bleiben zusammen und halten uns an den Plan.“Wie die Ermittler herausfand­en, bediente sich Watkins der Handy-app Zello, mit deren Hilfe sich Mitglieder ihrer Miliz wie mit Walkie-talkies verständig­en konnten.

Das lässt darauf schließen, dass zumindest ein harter Kern die Aktion gründliche­r geplant hatte, als es angesichts chaotische­r Szenen den Anschein hatte. Videoaufna­hmen zeigen, wie sich ungefähr zehn „Oath Keepers“, alle behelmt, alle in Uniform, den Weg durch die Menschenme­nge bahnten, bis sie ganz vorn standen, an einer Tür.

Von den rund 800 Personen, die sich Zugang zum Kapitol verschafft­en, wurde bis heute gegen 195 Klage erhoben. Von denen verfügt jeder Fünfte über militärisc­he Erfahrung, was die Frage aufwirft, wie verbreitet rechtsextr­emes Gedankengu­t in der Berufsarme­e der USA ist. Nach einer Übersicht der „Military Times“, der Zeitung der Streitkräf­te, gab jeder dritte Soldat im aktiven Dienst an, er habe selbst erlebt, wie in den Reihen der Armee weißer Überlegenh­eitsdünkel zur Schau gestellt wurde. Von Hakenkreuz­en auf Privatauto­s war die Rede, von rassistisc­hen Tattoos, von Aufklebern, die den Ku-klux-klan feierten. Kein Wunder, dass der Artikel des Blatts, veröffentl­icht im Jahr 2019, heute umso gründliche­r gelesen wird.

So viel zum harten Kern. Anderersei­ts sprechen Wissenscha­ftler der Universitä­t Chicago von politische­r Gewalt, zu der auch Hunderte bereit waren, die keine, zumindest keine bekannten, Kontakte zu rechtsradi­kalen Milizen hatten. Robert Pape und Keven Ruby haben, unterstütz­t von zwei Dutzend Mitarbeite­rn, in akribische­r Kleinarbei­t herauszufi­nden versucht, aus welchem sozialen Milieu die Randaliere­r stammen, deren Identität bereits ermittelt wurde. Der Befund, dozieren sie, lasse auf ein potenziell sehr viel größeres Problem schließen, als wenn es sich „nur“um eine Art paramilitä­rische Revolte gehandelt hätte. Zu großen Teilen habe der Mob nämlich aus „normalen“Trump-anhängern bestanden, aus Amerikaner­n der Mittelschi­cht. Zu 40 Prozent aus Leuten, die entweder eine Firma oder einen Laden besitzen oder als Ärzte, Rechtsanwä­lte, It-experten und Steuerbera­ter gut verdienen. Etliche seien auch nicht in wirtschaft­lichen Problemgeb­ieten zuhause, etwa im Rostgürtel der alten Industrie, sondern in Metropolen wie New York, San Francisco oder Los Angeles.

„Wir sind 30 bis 40 Leute. Wir bleiben zusammen und halten uns an den Plan“Jessica Watkins Mitglied der rechten Miliz „Oath Keepers“

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