Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
WISSENSDRANG Was Viren eben so tun
Mutationen sind die Regel. Sie etwa bösartig zu nennen, ist aber unwissenschaftlich.
Viruspartikel bestehen aus einem Genom, einer Kapsel und in manchen Fällen, wie bei Sars-cov-2, aus einer zusätzlichen Membranhülle. In dieser Membranhülle sitzen Proteine, die dem Virus helfen, sich an eine Wirtszelle zu binden und von dieser aufgenommen zu werden. Die Proteine werden manchmal Spikes genannt, da sie wie Stacheln aussehen. Sie sind oft die ersten Strukturen, die unser Immunsystem erkennt und benutzt, um das Virus unschädlich zu machen. Die Bauanleitung der Spikes sitzt im Virusgenom, und das verändert sich ständig. Sars-cov-2 ist ein sogenanntes Einzelstrang-rna-virus. Solche Viren sind dafür bekannt, besonders schnell zu mutieren. Genom-mutationen sind oft ohne Auswirkungen für die
Wechselwirkung zwischen Virus und Mensch. Manchmal machen die Mutationen das Virus jedoch infektiöser, insbesondere wenn die Mutationen die Spikes betreffen. So kann durch eine Veränderung der Spikes die Bindung an die Zielzelle verbessert werden, oder unser Immunsystem hat plötzlich Probleme, das Virus zu erkennen.
Es kann auch passieren, dass die Mutationen das Virus schwächen, zum Beispiel wenn aus dem Stachel ein Stummel wird. Man vermutet, dass die Influenza-variante, die vor 100 Jahren für die Spanische Grippe verantwortlich war und plötzlich verschwand, sich schlichtweg in die Harmlosigkeit mutiert hat.
Die englische Sars-cov-2-variante B.1.1.7 hat bisher 17 Mutationen akkumuliert, acht davon befinden im Bauplan der Spikes. Es hat unter anderem kleine Stücke des Genoms verloren, was generell ungünstig für ein Virus ist. Die Beratenden der Politik bezeichnen B.1.1.7 als gefährlich und bösartig. Das sind unwissenschaftliche Begriffe, die Angst in der Gesellschaft hervorrufen, ohne Informationen über die Infektiosität der Variante zu liefern. Belastbare Aussagen über die Auswirkungen von B.1.1.7 auf das Infektionsgeschehen können momentan gar nicht getroffen werden. Hierfür ist eine engmaschige molekulare Überwachung nötig, an der es in Deutschland zurzeit noch mangelt.
Unsere Autorin ist Professorin für Infektionsbiologie an der RWTH Aachen. Sie wechselt sich hier mit Maria-sibylla Lotter ab.