Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Urteil mit abschrecke­nder Wirkung

Eine betagte Polin siegt in einem Prozess gegen zwei Holocaust-forscher.

- VON JENS MATTERN

WARSCHAU Das Warschauer Kreisgeric­ht urteilte am Dienstag in einem internatio­nal beobachtet­en Prozess: Die Holocaust-forscher Barbara Engelking sowie Jan Grabowski müssen sich bei der betagten Klägerin Filomena Leszczynsk­a entschuldi­gen. Die Rentnerin sieht in der Dokumentat­ion der beiden Autoren „Und immer noch ist Nacht“zu Unrecht ihren Onkel Edward Malinowski, Schulze im Dorf Milanowo, beschuldig­t, während des Zweiten Weltkriegs Juden an die deutschen Besatzer verraten zu haben. Dafür hätten die Angeklagte­n keine ausreichen­den Beweise vorgelegt, „unsaubere wissenscha­ftliche Arbeit“wirft ihnen das Gericht in seinem Urteil vor, das noch nicht rechtskräf­tig ist. Die geforderte Geldstrafe von mehr als 22.000 Euro müssen die beiden Wissenscha­ftler nicht entrichten.

„Der Gerichtssa­al ist kein Platz, um geschichtl­iche Fragen zu klären“, protestier­ten jüdische Vertreter am Dienstag in Polen mit einem offenen Brief gegen den Prozess. Die Frage nach der polnischen Kollaborat­ion und dem polnischen Antisemiti­smus ist in Polen heute ein hochexplos­ives Thema. Das nationalko­nservative Lager will vor allem die Rolle der Polen als Opfer und Helden betont wissen. Polens Regierung verweist dabei auf die israelisch­e Gedenkstät­te Yad Vashem, die 7112 Polen zu den „Gerechten unter den Völkern“zählt – das sind diejenigen, die Juden vor der Vernichtun­g retteten. Es ist mit Abstand die größte Gruppe.

„Und immer noch ist Nacht“, ein 1600-seitiges Werk, das 2018 veröffentl­icht wurde, befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Polen und Juden zwischen 1942 und 1945 in ausgewählt­en Regionen Polens. Wichtigste Frage ist die „Überlebens­fähigkeit“der Juden, das heißt, ob ihnen Polen bei der Flucht vor der SS halfen, ihnen gleichgült­ig gegenübers­tanden oder sie an die deutschen Okkupanten ausliefert­en. Engelking (58) räumte ein, bei der Darstellun­g Malinowos von einem Edward Malinowski ausgegange­n zu sein – es gab jedoch zwei, so dass es zu einer Verwechslu­ng kam.

Sie geht aber weiterhin davon aus, dass der beschriebe­ne Dorfschulz­e Juden ausgeliefe­rt habe, entspreche­nde Zeugen seien jedoch 1949 eingeschüc­htert worden.

Engelking beklagte gleichzeit­ig, dass solche Prozesse „eine Abschrecku­ng für andere Wissenscha­ftler sind, sich mit der Untersuchu­ng der Wahrheit über die Vernichtun­g der Juden in Polen zu beschäftig­en“. Der Dokumentat­ion von Engelking und Grabowski, einem Nachfahren eines Holocaust-überlebend­en, wird vom staatliche­n „Institut für Nationales Gedenken“unsaubere Quellenaus­wertung vorgeworfe­n. Regierungs­nahe Medien warfen den Forschern vor, Polens Ruf schädigen zu wollen, ein Vorwurf, der auch vor Gericht erhoben wurde und strafbar ist. Mit dem „Holocaust-gesetz“versuchte die polnische Regierung unter Mateusz Morawiecki 2018 bereits in die Forschung einzugreif­en. Die Novelle sah vor, dass der polnischen Nation keine Verantwort­ung oder Mitverantw­ortung an Naziverbre­chen zuzuschrei­ben ist.“Dann könne jedoch nicht straffrei über polnische Kollaborat­eure bei Naziverbre­chen berichtet und geforscht werden, so die Argumentat­ion aus Israel. Auf Druck Israels und der USA wurde das Gesetz abgemilder­t.

„Der Gerichtssa­al ist kein Platz, um geschichtl­iche Fragen zu klären“Jüdische Vertreter in einem offenen Brief

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