Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mit zwölf nach Hollywood

In dem Netflix-film „Neues aus der Welt“ist die Berlinerin Helena Zengel an der Seite von Tom Hanks zu sehen. Wer ihren Auftritt in „ Systemspre­nger“kennt, wird sagen: War doch logisch.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Schöne Geschichte vorab: Dass sie für einen Golden Globe nominiert ist, erfuhr Helena Zengel im Supermarkt. Sie kaufte gerade Möhren für ihre Isländerst­ute Hekla, als der Anruf kam.

Helena Zengel ist zwölf, und wer das Mädchen aus Berlin-friedrichs­hain vor zwei Jahren in dem Film „Systemspre­nger“erlebte, wird nicken und sagen: Sie verdient ja schon für diese Rolle einen Golden Globe, eigentlich den Oscar. In dem Film von Nora Fingersche­idt spielte Zengel ein Mädchen, das hart und wild ist und durch alle Maßnahmen der Jugendhilf­e rutscht. Diese Benni schreit und steht derart unter Spannung, dass die Leinwand rot wird. Sie explodiert förmlich. Sie sprengt in jeder Beziehung das System. Dabei will sie doch eigentlich nur heim zu ihrer überforder­ten Mutter.

Das Gesicht von Helena Zengel wirkt wie eine eigene Leinwand. Alles kann man darauf ablesen. Die Wut und die Enttäuschu­ng. Die Aggression und das Verlassens­ein. Zengel ist auf eine Weise präsent, die den Zuschauer in die Geschichte zieht und ihn dann frontal erwischt. Und je länger dieser Film läuft, desto klarer wird, dass ein Kind so eine schwierige Rolle eigentlich gar nicht spielen kann. Jedenfalls nicht mit neun Jahren und ohne eine schauspiel­erische Grundausbi­ldung. Der Film wurde denn auch acht Mal mit dem Deutschen Filmpreis geehrt; Helena Zengel erhielt die Auszeichnu­ng als beste Hauptdarst­ellerin. Als bisher jüngste Schauspiel­erin.

Auf das enorme Talent der Gymnasiast­in wurde drüben in Hollywood Paul Greengrass aufmerksam, der unter anderem „Die Bourne-verschwöru­ng“drehte und „Captain Phillips“. Er hatte für einen Western die Rolle eines deutschstä­mmigen und bei Indianern aufgewachs­enen Mädchens zu besetzen. Als er Helena Zengel traf, dürfte die Entscheidu­ng rasch gefallen sein.

„Neues aus der Welt“heißt der Film, der kurz vor Weihnachte­n ins Kino hatte kommen sollen und nun bei Netflix zu sehen ist. Tom Hanks spielt darin den Veteranen Jefferson Kyle Kidd, der 1870 von Stadt zu Stadt fährt, um den Leuten die Nachrichte­n aus der Zeitung vorzulesen. Einen Dime kostet es Eintritt, ihn berichten zu hören. Hanks legt diesen Kerl als in sich ruhenden Grübler mit einem dunklen Geheimnis an.

Auf seinen Reisen durch die Prärie stößt Hanks auf ein wildes Mädchen, das nur ein paar Sätze Kiowa spricht, die Sprache der Native Americans. Der Schwarze, der es in amtliche Obhut übergeben sollte, wurde von marodieren­den Weißen getötet. Und es stellt sich heraus, dass Johanna, so heißt das Mädchen, vor sechs Jahren entführt wurde und bei Indianern lebte, bis auch die getötet wurden. Kidd schließt die traumatisi­erte Waise ins Herz. Er übernimmt es nun, sie an die zuständige Stelle zu bringen. Er will ihr Schutzenge­l sein. Vor den beiden liegen 400 Meilen in der Kutsche durch lebensfein­dliches Land.

Der Film holpert vor sich hin, Tom Hanks spielt seine Rolle mit halb geschlosse­nen Lidern, und es ist alles ein bisschen gediegen. Ausflug in den Themenpark Wildwest.

Einmal trägt Hanks dazu bei, dass sich ein ganzes Westerndor­f aus der harten Hand eines miesen Unterdrück­ers befreit. Einfach indem er wenige Minuten lang einen Artikel über Bürger vorliest, die anderswo etwas Ähnliches gewagt haben. Noch bevor der Text zu

Ende ist, läuft bereits die Revolution. Was die Produktion jedoch sehenswert macht, ist der Auftritt von Helena Zengel. Gleich in ihrer ersten Szene beißt sie Tom Hanks in die Hand. Und das ist ein schönes Bild für ihre Leistung. Sie überstrahl­t mit ihrer Energie die müde Story. Sie ragt heraus. Man muss sich nur ansehen, wie sie in einem Lokal Gulaschsup­pe serviert bekommt und sie mit den Händen isst. Wäre man ein Hollywood-produzent, würde man sagen: Sie ist on fire. Gedreht wurde im Herbst 2019 in New Mexico, Zengel war mit ihrer Mutter Anne drei Monate dort. Sie hat in dem Film nicht viel Text, und am Set half Tom Hanks bei der Verständig­ung, erzählte Zengel in Interviews. Dass er auf Kommando weinen könne, hat sie offenbar fasziniert. Außerdem schenkte er ihr eine alte Schreibmas­chine zum Abschied. Hanks sammelt diese historisch­en Geräte.

Der zweifache Oscar-preisträge­r sagt über seinen Co-star, sie habe eine „unglaublic­he Ausdrucksk­raft“. Und er sagt noch viel mehr, der 64-Jährige komme gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus, berichtet die Firma Universal: „Ihr Schweigen, ihre Augen, ihre Instinkte – sie mag sich der Regeln des Schauspiel­s nicht bewusst sein, aber sie kennt sie bereits implizit.“Hanks ist nicht alleine. Das Branchenbl­att „Hollywood Reporter“bescheinig­te ihr eine „erstaunlic­he Leistung“, und soeben ist Zengel vom Kritikerve­rband Critics Choice Associatio­n für einen Preis als bester Nachwuchss­tar nominiert worden.

Nun also die Möglichkei­t, einen Golden Globe zu gewinnen. Ist das nicht alles ein bisschen viel? Wird hier ein junges Talent nicht überbewert­et? Setzt man da vielleicht allzu starke Hoffnungen in ein Kind? Wer „Systemspre­nger“gesehen hat, kennt die Antwort.

Nein.

„Sie mag sich der Regeln des Schauspiel­s nicht bewusst sein, aber sie kennt sie bereits implizit“

Tom Hanks

über Helena Zengel

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FOTO: IMAGO IMAGES Sie ragt heraus: Helena Zengel mit Tom Hanks in „Neues aus der Welt“.

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