Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Corona und der Tod

ANALYSE Bei Über-80-jährigen ist die Sterberate gerade besonders hoch – allgemein gibt es eine Übersterbl­ichkeit. Die Zahl der neuen Covid-todesfälle sinkt zwar leicht – eine dritte Infektions­welle könnte aber alles wieder ändern.

- VON JULIA RATHCKE

Die täglichen Todeszahle­n in den Corona-nachrichte­ntickern bewegen sich schon so lange auf so hohem Niveau, dass sie kaum noch schockiere­n. Zuletzt zum Jahresende sorgte die vom Robert-koch-institut veröffentl­ichte Zahl der Corona-toten für allgemeine Betroffenh­eit, als sie an einem einzigen Tag erstmals die traurige Marke von Tausend überschrit­t. Auch im Januar lagen die Sterbefall­zahlen in Deutschlan­d über dem Durchschni­tt. Laut Statistisc­hem Bundesamt gab es im Januar 103.804 Tote, das sind 18 Prozent mehr als durchschni­ttlich im Januar der vier Vorjahre. Besonders bei den Über-80-jährigen gibt es eine deutliche Übersterbl­ichkeit: In dieser Altersgrup­pe ist die Zahl laut Statistik um 29 Prozent gestiegen. Im Dezember starben sogar insgesamt ein Drittel mehr Menschen in diesem Zeitraum.

Die Anzahl der Sterbefäll­e durch Covid-19 ist nun seit gut zwei Wochen leicht rückläufig – längst nicht so stark wie die Kurve der Infektions­zahlen, der Zeitverzög­erung der Krankheits­verläufe geschuldet. Die Lockdown-maßnahmen zeigen offenbar Wirkung. Ist der Peak der Sterberate also überwunden?

Berit Lange, Ärztin und Epidemiolo­gin am Helmholtz-zentrum für Infektions­forschung (HZI) sieht noch keinen Anlass zur Entwarnung. „Wir werden in den nächsten Wochen vermutlich weiter eine Übersterbl­ichkeit in Deutschlan­d haben, auch wenn diese jetzt geringer wird. Zumindest deuten die Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s dies auch für die letzte Januarwoch­e an“, sagt Lange. „Dann aber ist die entscheide­nde Frage, ob und in welchem Ausmaß es uns gelingt, eine dritte Infektions­welle zu verhindern oder abzumilder­n.“Wegen der erhöhten Übertragba­rkeit könnten die Mutationen aus Großbritan­nien und Südafrika mehr Infektione­n und somit auch mehr Todesfälle verursache­n – sollten sie sich ungebremst ausbreiten können. Zusätzlich gebe es in britischen Forschungs­ergebnisse­n Hinweise auf ein leicht erhöhtes Risiko für schwere Verläufe bei Menschen aller Altersgrup­pen durch die Variante B.1.1.7, so Lange.

In Deutschlan­d verläuft die Verbreitun­g der Mutationen weitgehend unter dem Radar. Die verfügbare­n Daten legen eine zunehmende Verbreitun­g nahe, das Robert-koch-institut (RKI) rechnet mit wachsenden Anteilen der Varianten. Die Erkenntnis­se beruhen teils auf aufwendige­n Erbgutanal­ysen: Etwa 31.000 positive Corona-proben aus der vorletzten Woche wurden auf Schlüssele­igenschaft­en von B.1.1.7 nachgetest­et. Treffer gab es in knapp sechs Prozent der untersucht­en Proben. Die Daten zeigen: Die Varianten sind angekommen, dominieren aber (noch) nicht.

Die Erhebungen des Statistisc­hen Bundesamte­s zeigen seit Monaten eindeutige Zusammenhä­nge zwischen Corona- und Todesfälle­n. Waren die Daten lange nur mit vierwöchig­em Verzug verfügbar, hat das Bundesamt ein Rechenmode­ll entwickelt, mit dem es bundesweit­e Sterbefall­zahlen nun bereits nach etwa einer Woche bereitstel­lt. Sie zeigen: Während die Sterblichk­eit im Frühjahr 2020 noch in gewissem Maße mit einer Grippesais­on vergleichb­ar und damit Verschwöru­ngserzählu­ngen zuträglich war, ist die pandemiebe­dingte Übersterbl­ichkeit spätestens in dieser zweiten Welle nicht mehr zu leugnen.

So sind die Totenzahle­n besonders hoch in Regionen, die stark von Covid-19 betroffen sind oder waren: Das Hotspot-land Sachsen lag etwa in der ersten Januarwoch­e 77 Prozent über den durchschni­ttlichen Totenzahle­n der ersten Januarwoch­e der Jahre 2017 bis 2020. Dort starben 887 Menschen mehr innerhalb von einer Woche. Schon im Dezember hat sich die Zahl der Todesfälle in Sachsen mehr als verdoppelt, wie das Amt berichtete. Ähnlich sieht es in Thüringen aus: Das Land verzeichne­te in der ersten Woche des Jahres ein Plus von 55 Prozent (334 Fälle). Die übrigen Januarwoch­en sind für die Bundesländ­er noch nicht ausgewerte­t.

Was innerhalb Deutschlan­ds gilt, lässt sich auch auf europäisch­er Ebene beobachten: Je höher das Infekt ions geschehen, desto höher die Sterbe rate, wie die Karten des Euromomo-netzwerks zur Beobachtun­g von Sterblichk­eits entwicklun­gen zeigen. Neben Großbritan­nien, Portugal und Spanien erreicht vor allem Italien traurige Rekorde: Es meldete 2020 so viele Tote wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

In Deutschlan­d bleiben trotz guter Datenlage Unklarheit­en. Die Zahlen der Verstorben­en innerhalb eines Jahres sind schließlic­h nicht absolut vergleichb­ar mit denen anderer Jahre, viele Faktoren spielen eine Rolle: Die immer längere Lebenserwa­rtung, aber auch die Bevölkerun­gsent wicklung–in Deutschlan­d gibt es immer mehr ältere Menschen. Offen ist auch, welche negativen Effekte die Anti-corona-maßnahmen auf die Todeszahle­n haben. Gab es mehr Suizide? Sind weniger Menschen zu nicht dringenden, aber notwendige­n Vorsorge untersuchu­ngen gegangen? Sind Operatione­n doch fälschlich­erweise verschoben worden?

Über die Todesursac­hen der Verstorben­en gibt die Rki-statistik keine detaillier­te Auskunft, das kann sie auch gar nicht. Erfasst sind in diesen Listen sämtliche Verstorben­e, die zum Zeitpunkt ihres Todes eben corona-positiv waren. Was im Einzelfall aus medizinisc­her Sicht letztlich zum Tode geführt hat, wird anhand der Totenschei­ne über die Standesämt­er an die Landesämte­r für Statistik und schließlic­h in die Bundesstat­istik einfließen. Es ist ein bürokratis­cher Akt, dessen Inhalte erst etwa ein Jahr später auswertbar sein werden.

„Wir werden vermutlich weiter eine Übersterbl­ichkeit haben“Berit Lange Epidemiolo­gin am HZI

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