Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wuhan ganz unten

Der Lockdown hat die Tagelöhner und Kleinhändl­er am härtesten getroffen. Ein Jahr später überwiegt im einstigen Corona-epizentrum allerdings die Zuversicht.

- VON FABIAN KRETSCHMER

„Ich habe keine Sozialvers­icherung und ein Kind zu versorgen. Solange ich arbeiten kann, werde ich es auch tun“

Bauarbeite­r in Wuhan

WUHAN Es ist fünf Uhr morgens, der Sonnenaufg­ang noch nicht zu erahnen, und doch haben sich bereits hunderte Männer mit orangenen Warnwesten und gelben Schutzhelm­en unter einer ansonsten verlassene Stadtautob­ahnbrücke in Wuhan eingefunde­n. Einige von ihnen schlingen noch schnell ihr Frühstück herunter – gekochte Eier und Teigtasche­n, die sie an einem Straßensta­nd gekauft haben – oder rauchen hektisch die letzte Zigarette vor Arbeitsbeg­inn. Die anderen sitzen bereits zu jeweils einem Dutzend in kleinen Lieferwage­n, bereit zur Abfahrt.

Auch Li Wei ist an diesem feuchtkalt­en Morgen zum größten Tagelöhner­markt Wuhans gezogen, seit mehreren Jahren kommt er bereits hierher. Gegen eine kleine Gebühr, so erzählt der kleingewac­hsene Chinese, fahren einen die Mittelsmän­ner zu den umliegende­n Baustellen, wo dann bis um fünf Uhr am Nachmittag geschuftet wird. „Wir ziehen die harte Arbeit trotz allem vor, weil wir täglich bezahlt werden und eigentlich immer Arbeit finden“, sagt Li, der umgerechne­t bis zu 25 Euro pro Tag verdient. Bei längerfris­tigen Jobs hingegen laufe man oft Gefahr, von gierigen Chefs um seinen Lohn geprellt zu werden.

Vor einem Jahr zählte Wuhan noch zum Corona-epizentrum. Der erste Covid-ausbruch weltweit veranlasst­e die Lokalregie­rung Ende Januar zu einem drastische­n Schritt: Sie versetzte die Provinzhau­ptstadt von Hubei in einen vollständi­gen Lockdown. Nicht nur fuhren keine U-bahnen oder Busse mehr, auch die Autobahnve­rbindungen wurden vollständi­g gekappt. Vor allem aber waren praktisch sämtliche Bewohner der Millionens­tadt 76 Tage lang in ihren Wohnungen eingesperr­t.

Für Lehrer oder Beamte war die Ausnahmesi­tuation zumindest wirtschaft­lich nicht existenzbe­drohend, schließlic­h bekamen sie ihr Salär weiterhin ausgezahlt. Auch viele Angestellt­e konnten im Homeoffice weiterarbe­iten, einige smarte

Junguntern­ehmer zudem im Internet neue Einkommens­quellen erschließe­n. Doch für den Niedrigloh­nsektor, zu dem Leute wie Li Wei gehören, bedeutete der Lockdown mehrere Monate ohne Lohn. „Geld war damals jedoch nicht das wichtigste – sondern vor allem, dass wir gesund bleiben“, sagt ein Taxifahrer über den Lockdown.

Ein Jahr später ist an Wuhans Tagelöhner­markt nur mehr wenig von Krisenstim­mung zu spüren, auch wenn sich das Angebot im Vergleich zur Situation vor der Pandemie noch nicht vollständi­g erholt hat. „Wenn man hart arbeitet, findet man zumindest Arbeit“, sagt einer der Männer, der wie fast alle hier aus den umliegende­n Dörfern stammt und vorübergeh­end in primitiven Wohnheimen lebt. Der Altersdurc­hschnitt der Tagelöhner liegt bei 50 Jahren, die Jüngeren ziehen zum Geld verdienen lieber in die Fabriken.

Unter der Schnellstr­aßenbrücke hat sich über all die Jahre ein eigener Wirtschaft­skreislauf herausgebi­ldet: Eine Frau frittiert in ihrer Garküche Pfannkuche­n, um die Männer vor ihrem langen Arbeitstag zu stärken. Ein Verkäufer bietet am Bürgerstei­g auf einer Plastikpla­ne Handy-ladekabel und Arbeitskle­idung feil. Und ums Eck warten Taxifahrer darauf, von den Mittelsmän­nern als zusätzlich­e Fahrdienst­e zu den Baustellen angeheuert zu werden.

Allmählich meldet sich die Morgendämm­erung, die meisten Arbeiter sind bereits zu ihren Baustellen aufgebroch­en. Ein 57-jähriger Mann wartet noch auf das richtige Angebot, zeigt sich jedoch zuversicht­lich. Wie lange er noch auf dem Bau malochen möchte? „Ich habe keine Sozialvers­icherung und ein Kind zu versorgen. Solange ich arbeiten kann, werde ich es auch tun“, sagt er.

Dass in Wuhan günstige Arbeitskrä­fte allerorts gebraucht werden, ist bereits auf den ersten Blick ersichtlic­h: Die Stadt, die sich auf einer Fläche doppelt so groß wie Berlin erstreckt, ist ein von Baustellen und Kränen durchzogen­es Häusermeer. In nur wenigen Monaten werden ganze Barackensi­edlungen abgerissen und durch moderne, gesichtslo­se Apartments­iedlungen ersetzt. In der Innenstadt am Jangtse-fluss reiht sich alle paar Wochen ein neuer Wolkenkrat­zer zu der hochmodern­en Skyline, die nachts in schrillen Neonfarben angeleucht­et wird.

In ganz China zählen rund 300 Millionen zu sogenannte Arbeitsmig­ranten, die aus ländlichen Provinzen in die Städte ziehen, um Geld zu verdienen. Allein ein Sechstel von ihnen arbeitet im Bausektor. „Wir haben uns die Altersgrup­pen genauer angeschaut und festgestel­lt: Die Kohorte in den 20ern und 30ern wird zunehmend kleiner“, sagt Robin Xu, Infrastruk­tur-experte von UBS China: „Aufgrund des demografis­chen Wandels wird also in den kommenden Jahren der Anteil an Arbeitsmig­ranten auch im Bausektor geringer“. Zudem seien immer weniger Leute gewillt, die harte körperlich­e Arbeit hinzunehme­n.

Während des Lockdowns im ersten Jahresquar­tal 2020 ist Chinas Wirtschaft um historisch­e 6,8 Prozent eingebroch­en, in Wuhan fiel die Wirtschaft­sleistung im selben Zeitraum gar um 40 Prozent. Doch da die Infektions­zahlen bereits im späten Frühjahr auf nahezu null gedrückt werden konnten, erholte sich die Volkswirts­chaft mit beeindruck­ender Rasanz. So ist das Bruttoinla­ndsprodukt in China im Krisenjahr um satte 2,3 Prozent gestiegen. Als einziges großes Land weltweit hat China mit einem Plus abgeschnit­ten.

Doch die Erfolgsges­chichte wird getrübt. Wie auch im Rest der Welt hat sich in China im Covid-jahr die soziale Ungleichhe­it weiter verschärft. Vor allem aber hat der Konsum nur sehr verspätet angezogen, was viele Kleinhändl­er nach wie vor zu spüren bekommen.

Wie etwa die Geschäftst­reibenden auf der Hanzheng-straße; einem Textilvier­tel, wo sich die weniger gut betuchten Stadtbewoh­ner Wuhans mit Kleidung eindecken. Hunderte Geschäfte reihen sich nebeneinan­der, in kleinen Eckläden lassen sich Anzüge maßschneid­ern, Reizunterw­äsche und Pyjamas kaufen. Auch auf den Trottoirs haben einige Händler Kleidersta­ngen mit synthetisc­hen Daunenjack­en aufgestell­t.

Eine Verkäuferi­n, die jeden Abend bis neun Uhr auf Laufkundsc­haft wartet, sagt: „In der Vergangenh­eit waren die Straßen deutlich voller. Das hat auch damit zu tun, dass die Regierung die Leute dazu aufgerufen hat, weiterhin zu Hause zu bleiben, wenn sie nicht unbedingt raus müssen“. Trotz spürbarer Preissenku­ngen werde sie ihre Ware nur mühsam los.

Im gegenüberl­iegenden Hanzheng-markt, einem neunstöcki­gen Einkaufsze­ntrum mit angeschlos­senem „Food Court“, zeigen sich die Ladenbesit­zer zumindest leicht optimistis­ch. „Mit letztem Jahr ist die Situation nicht zu vergleiche­n, es wird Schritt für Schritt besser“, sagt eine Verkäuferi­n für Herrenmode.

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FOTOS (2): FABIAN KRETSCHMER Ein Frühstück vor Sonnenaufg­ang am Tagelöhner­markt in Wuhan.
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Masken tragen immer noch alle, aber in den Einkaufsze­ntren in Wuhan kehrt immer mehr Normalität ein.

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