Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wuhan ganz unten
Der Lockdown hat die Tagelöhner und Kleinhändler am härtesten getroffen. Ein Jahr später überwiegt im einstigen Corona-epizentrum allerdings die Zuversicht.
„Ich habe keine Sozialversicherung und ein Kind zu versorgen. Solange ich arbeiten kann, werde ich es auch tun“
Bauarbeiter in Wuhan
WUHAN Es ist fünf Uhr morgens, der Sonnenaufgang noch nicht zu erahnen, und doch haben sich bereits hunderte Männer mit orangenen Warnwesten und gelben Schutzhelmen unter einer ansonsten verlassene Stadtautobahnbrücke in Wuhan eingefunden. Einige von ihnen schlingen noch schnell ihr Frühstück herunter – gekochte Eier und Teigtaschen, die sie an einem Straßenstand gekauft haben – oder rauchen hektisch die letzte Zigarette vor Arbeitsbeginn. Die anderen sitzen bereits zu jeweils einem Dutzend in kleinen Lieferwagen, bereit zur Abfahrt.
Auch Li Wei ist an diesem feuchtkalten Morgen zum größten Tagelöhnermarkt Wuhans gezogen, seit mehreren Jahren kommt er bereits hierher. Gegen eine kleine Gebühr, so erzählt der kleingewachsene Chinese, fahren einen die Mittelsmänner zu den umliegenden Baustellen, wo dann bis um fünf Uhr am Nachmittag geschuftet wird. „Wir ziehen die harte Arbeit trotz allem vor, weil wir täglich bezahlt werden und eigentlich immer Arbeit finden“, sagt Li, der umgerechnet bis zu 25 Euro pro Tag verdient. Bei längerfristigen Jobs hingegen laufe man oft Gefahr, von gierigen Chefs um seinen Lohn geprellt zu werden.
Vor einem Jahr zählte Wuhan noch zum Corona-epizentrum. Der erste Covid-ausbruch weltweit veranlasste die Lokalregierung Ende Januar zu einem drastischen Schritt: Sie versetzte die Provinzhauptstadt von Hubei in einen vollständigen Lockdown. Nicht nur fuhren keine U-bahnen oder Busse mehr, auch die Autobahnverbindungen wurden vollständig gekappt. Vor allem aber waren praktisch sämtliche Bewohner der Millionenstadt 76 Tage lang in ihren Wohnungen eingesperrt.
Für Lehrer oder Beamte war die Ausnahmesituation zumindest wirtschaftlich nicht existenzbedrohend, schließlich bekamen sie ihr Salär weiterhin ausgezahlt. Auch viele Angestellte konnten im Homeoffice weiterarbeiten, einige smarte
Jungunternehmer zudem im Internet neue Einkommensquellen erschließen. Doch für den Niedriglohnsektor, zu dem Leute wie Li Wei gehören, bedeutete der Lockdown mehrere Monate ohne Lohn. „Geld war damals jedoch nicht das wichtigste – sondern vor allem, dass wir gesund bleiben“, sagt ein Taxifahrer über den Lockdown.
Ein Jahr später ist an Wuhans Tagelöhnermarkt nur mehr wenig von Krisenstimmung zu spüren, auch wenn sich das Angebot im Vergleich zur Situation vor der Pandemie noch nicht vollständig erholt hat. „Wenn man hart arbeitet, findet man zumindest Arbeit“, sagt einer der Männer, der wie fast alle hier aus den umliegenden Dörfern stammt und vorübergehend in primitiven Wohnheimen lebt. Der Altersdurchschnitt der Tagelöhner liegt bei 50 Jahren, die Jüngeren ziehen zum Geld verdienen lieber in die Fabriken.
Unter der Schnellstraßenbrücke hat sich über all die Jahre ein eigener Wirtschaftskreislauf herausgebildet: Eine Frau frittiert in ihrer Garküche Pfannkuchen, um die Männer vor ihrem langen Arbeitstag zu stärken. Ein Verkäufer bietet am Bürgersteig auf einer Plastikplane Handy-ladekabel und Arbeitskleidung feil. Und ums Eck warten Taxifahrer darauf, von den Mittelsmännern als zusätzliche Fahrdienste zu den Baustellen angeheuert zu werden.
Allmählich meldet sich die Morgendämmerung, die meisten Arbeiter sind bereits zu ihren Baustellen aufgebrochen. Ein 57-jähriger Mann wartet noch auf das richtige Angebot, zeigt sich jedoch zuversichtlich. Wie lange er noch auf dem Bau malochen möchte? „Ich habe keine Sozialversicherung und ein Kind zu versorgen. Solange ich arbeiten kann, werde ich es auch tun“, sagt er.
Dass in Wuhan günstige Arbeitskräfte allerorts gebraucht werden, ist bereits auf den ersten Blick ersichtlich: Die Stadt, die sich auf einer Fläche doppelt so groß wie Berlin erstreckt, ist ein von Baustellen und Kränen durchzogenes Häusermeer. In nur wenigen Monaten werden ganze Barackensiedlungen abgerissen und durch moderne, gesichtslose Apartmentsiedlungen ersetzt. In der Innenstadt am Jangtse-fluss reiht sich alle paar Wochen ein neuer Wolkenkratzer zu der hochmodernen Skyline, die nachts in schrillen Neonfarben angeleuchtet wird.
In ganz China zählen rund 300 Millionen zu sogenannte Arbeitsmigranten, die aus ländlichen Provinzen in die Städte ziehen, um Geld zu verdienen. Allein ein Sechstel von ihnen arbeitet im Bausektor. „Wir haben uns die Altersgruppen genauer angeschaut und festgestellt: Die Kohorte in den 20ern und 30ern wird zunehmend kleiner“, sagt Robin Xu, Infrastruktur-experte von UBS China: „Aufgrund des demografischen Wandels wird also in den kommenden Jahren der Anteil an Arbeitsmigranten auch im Bausektor geringer“. Zudem seien immer weniger Leute gewillt, die harte körperliche Arbeit hinzunehmen.
Während des Lockdowns im ersten Jahresquartal 2020 ist Chinas Wirtschaft um historische 6,8 Prozent eingebrochen, in Wuhan fiel die Wirtschaftsleistung im selben Zeitraum gar um 40 Prozent. Doch da die Infektionszahlen bereits im späten Frühjahr auf nahezu null gedrückt werden konnten, erholte sich die Volkswirtschaft mit beeindruckender Rasanz. So ist das Bruttoinlandsprodukt in China im Krisenjahr um satte 2,3 Prozent gestiegen. Als einziges großes Land weltweit hat China mit einem Plus abgeschnitten.
Doch die Erfolgsgeschichte wird getrübt. Wie auch im Rest der Welt hat sich in China im Covid-jahr die soziale Ungleichheit weiter verschärft. Vor allem aber hat der Konsum nur sehr verspätet angezogen, was viele Kleinhändler nach wie vor zu spüren bekommen.
Wie etwa die Geschäftstreibenden auf der Hanzheng-straße; einem Textilviertel, wo sich die weniger gut betuchten Stadtbewohner Wuhans mit Kleidung eindecken. Hunderte Geschäfte reihen sich nebeneinander, in kleinen Eckläden lassen sich Anzüge maßschneidern, Reizunterwäsche und Pyjamas kaufen. Auch auf den Trottoirs haben einige Händler Kleiderstangen mit synthetischen Daunenjacken aufgestellt.
Eine Verkäuferin, die jeden Abend bis neun Uhr auf Laufkundschaft wartet, sagt: „In der Vergangenheit waren die Straßen deutlich voller. Das hat auch damit zu tun, dass die Regierung die Leute dazu aufgerufen hat, weiterhin zu Hause zu bleiben, wenn sie nicht unbedingt raus müssen“. Trotz spürbarer Preissenkungen werde sie ihre Ware nur mühsam los.
Im gegenüberliegenden Hanzheng-markt, einem neunstöckigen Einkaufszentrum mit angeschlossenem „Food Court“, zeigen sich die Ladenbesitzer zumindest leicht optimistisch. „Mit letztem Jahr ist die Situation nicht zu vergleichen, es wird Schritt für Schritt besser“, sagt eine Verkäuferin für Herrenmode.