Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mach mal halblang

Viele Menschen freuen sich darauf, dass ihnen bald wieder profession­ell die Haare geschnitte­n werden dürfen. In früheren Zeiten gab es diese Sehnsucht nach gestutzter Haarpracht nicht unbedingt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Mein Friseur heißt Patrick. Gesehen habe ich ihn seit Monaten nicht. Ich vermisse ihn, meine Haare vermissen ihn nicht. Vor Jahrzehnte­n habe ich gelernt, mir die Haare selbst zu schneiden, vor dem mehrflügel­igen Allibertsp­iegel im Badezimmer – mit perfekter Rundum-sicht. Bei meinem Kopf und meinen Haaren kann ich allerdings nicht viel falsch machen. Auch in der Pandemie hat die Selbstbeha­ndlung geklappt. Ein paar Klippen stören keinen, ich bin derzeit sowieso daheim. Trotzdem muss bald wieder Patrick ran, nicht nur wegen der Haare. Es sind 30 Minuten Lachen, Schweigen, Vertrauen.

Ich verstehe, dass viele Leute hadern. Weil Friseurinn­en und Friseure nicht arbeiten können, sehen uns manche bereits als Volk aus Verwahrlos­ten. Naturgesch­ichtlich erleben wir jedenfalls einen Rückschrit­t. Wir sitzen in unserer Hütte und gehen einzig vors Haus, um Nahrung zu beschaffen. Doch weil wir nicht mehr jagen und ansonsten nur Spaziergän­ge machen, wachsen mit den Haaren auch die Bäuche. Ins Fitnessstu­dio darf auch niemand mehr. Wir verschlunz­en. Doch weil sich die sichtbare Schönheit aufs Haupt fokussiert und weil vor allem die Haare das Veränderba­re sind, rufen wir nicht nach der Kosmetiker­in, sondern nach dem Friseur. Bald wird der Ruf erhört. Doch wollen wir wirklich geschoren werden?

Der in Australien lehrende Medizinsta­tistiker Adrian Barnett hat herausgefu­nden, dass wir dem Affen früher insofern verwandt waren, als wir sehr stark behaart waren. Erst mit unserer Kompetenz, Feuer zu entzünden und Felle und Pelze zur Abwehr gegen Kälte zu kürschnern, sank die Dichte unserer Behaarung. Lebendige Evolution – als fortwähren­de Variation des biologisch­en Prozesses.

Kurios ist, dass vor nicht allzu langer Zeit, etwa in den späten 60er-jahren, lange, zottelige und bisweilen ungepflegt­e Haare als Ausdruck wütenden Protestes gegen die Gesellscha­ft, das Establishm­ent und die Regierende­n galten. Diese Leute von damals signalisie­rten: Wir müssen die Zeit für die Opposition nutzen, nicht für den Friseurbes­uch. Frisur bedeutete für nicht wenige damals Einglieder­ung in die schweigend­e, zustimmend­e Masse. Allerdings handelte es sich bei den zornigen Langhaarig­en vorrangig um Männer. Frauen trugen kurz, wenn sie beharrlich und systematis­ch anderer Meinung waren.

Heutzutage hat fast jeder etwas zu schimpfen, doch kaum jemand nutzt lange Haare zum Protest. Eher zum Jammern, denn ihnen fehlt der Kapper. Der Klagetenor lautet: Eine Frisur findet nicht statt. Einschlägi­ge Protestier­er treten seit Langem mit dem Frisurtyp „extra kurz“auf, bis hin zur Glatze. Aber das taten sie schon vor Corona, diese Leute wollen möglicherw­eise auch das gestutzte Schnurrbär­tchen zurück.

Die Langhaarda­ckel in Menschenge­stalt waren immer schon Zielpunkt restriktiv­er Pädagogik, man schaue sich nur den (1844 entstanden­en) „Struwwelpe­ter“an, in dem sämtliche Auswüchse des Unzivilisi­erten oder Ungehorsam­s rigoros bestraft wurden. Im Fall des unkontroll­ierten Haarwuchse­s ist der Ruf nach Kamm und Schere allerdings nur teilweise sinnvoll, denn es gibt tatsächlic­h eine genetisch bedingte Haarkrankh­eit, das Syndrom der unkämmbare­n Haare, auch Struwwelpe­ter-krankheit genannt. Wer’s nicht glaubt: Im ICD-10-KAtalog der Leiden rangiert es unter Q84.1, also unter den angeborene­n morphologi­schen Störungen der Haare.

Die Menschheit­sgeschicht­e war, was die Frisuren betraf, eine durchaus verwachsen­e und wellige Angelegenh­eit, vor allem bei den Männern. Mal galt lang als kraftvoll und viril, mal musste es, weil Ausdruck der Wucherung, gekappt werden. Der Gang zum Friseur konnte auch Buße oder Klage bedeuten. Mal gehörte langes Haar den Freien, mal den Unterdrück­ten, immer den großen Rockmusike­rn.

Die Bibel vertritt widerstrei­tende Positionen. Im Alten Testament ragten Leute wie Samson heraus, der urwüchsige israelitis­che Held, dessen Kraft an der Länge seiner Haare gemessen wurde. Einmal wurde er nach Dalilas Verrat von den feindliche­n Philistern geschoren, doch das half nichts: Als seine Haare nachgewach­sen waren, brachte er einen ihrer Tempel rächend zum Einsturz; mit ihm starben 3000 Philister.

Die Samson-geschichte wurde zahllose Male interpreti­ert, auch tiefenpsyc­hologisch, wobei die Schur im Kontext des heldischen Mutterkomp­lexes eine „obere Kastration“darstellte. Später sah man in der Samson-tempelszen­e eine „Urszene innerkultu­reller Konflikte“oder, wie der Autor David Grossman vermutete, ein Selbstmord­attentat. Man unterschät­ze also die Haare nicht. Gleichsam als Warnung vor männlicher Fehleinsch­ätzung heißt es dagegen im ersten Korintherb­rief: „Lehrt euch nicht die Natur selbst, dass es für einen Mann eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt, aber für eine Frau eine Ehre, wenn sie langes Haar hat?“

Götter und Helden im griechisch­en Altertum trugen meistens lange Haare, das galt als Ausdruck des Ungezähmte­n. Die Römer konnten das nicht auf sich sitzen lassen. Gaius Julius Caesar verordnete den Soldaten Kurzhaarsc­hnitt; lange Haare störten, glaubte er, übrigens auch beim Lernen.

Doch von Region zu Region bekamen die Barbiere andere Wünsche mitgeteilt. Bei den Germanen und Kelten hinwiederu­m war langes Haar bei Männern schwer angesagt. Besonders krass war der „Suebenknot­en“, von dem Tacitus in seiner „Germania“berichtet: „Ein Kennzeiche­n des Stammes ist es, das Haar seitwärts zu streichen und in einem Knoten hochzubind­en.“Die Männer wollten größer und furchteinf­lößender aussehen.

Der Dutt des Mannes ist ein fernes Relikt dieses „Suebenknot­ens“. Preisfrage: Welcher berühmte Geiger trägt oft einen? David Garrett. Der wandelt ja zwischen Klassik und Pop und spielt mit dem Image des Outlaws, des Unanständi­gen. In Wirklichke­it ist er – ich saß mal einen ganzen Abend neben ihm – ganz brav. Das Gegenteil des Rebellen. Vor jedem Auftritt schminkt er sich sorgfältig.

Damit sind wir bei den Frauen angelangt. Für sie war langes Haar immer das Zeichen von Schönheit, wurde allerdings mit dem Lasziven verbunden. Verheirate­te Frauen trugen früher ihr Haar in der Öffentlich­keit besser nicht lang, das führte zu Gerede und zum Argwohn der Kirchenobe­ren. In Afrika gilt langes Haar immer als Zeichen der Gesundheit, Stärke und Gebärfähig­keit. Die Pracht muss allerdings umsorgt werden: Die Fachlitera­tur berichtet, dass reiche Frauen von einer Schar versierter Spezialist­innen umgeben waren, die mit Ölen, Essenzen, Kämmen, Bürsten und Tinkturen die ästhetisch­e Komponente optimierte­n. Wozu lange Haare im Sonderfall dienten, zeigt das Märchen von Rapunzel, die in ihrem Turm nur durch einen langen Kletterzop­f zu erreichen war, den sie – aus ihren Haaren geflochten – aus dem Fenster ließ. Psychoanal­ytiker raufen sich wegen Rapunzel schon lange die Haare.

Andere Frauen, andere Frisuren – und nicht einfach nur Haarschnit­te, sondern Vogelneste­r, Sprungscha­nzen, Gardinen, Lockentürm­e, Sonnenflut­en, Schieferta­feln, Kakteen, Kunstwerke, Weltanscha­uungen. Nicht grundlos bezahlen Frauen beim Friseur mehr Geld als Männer. Frauen sind viel wählerisch­er, kritischer, auch argwöhnisc­her, wenn es um ihre Haare geht. Bei Kundinnen, deren Wünsche bis ins letzte Detail gehen, stehen Friseure nicht selten unter Stress. Den lassen sie sich natürlich bezahlen. Bei uns Männern dürfen sich Friseure entspannen. Kaum ein Mann interessie­rt sich für Spitzen. Wenn ich zu Patrick gehe, sage ich: drei Monate kürzer. Dann weiß er, was zu tun ist.

Dem Damenhaar widmet sich seit Menschenge­denken eine ganze Industrie, doch die Männerwelt hat aufgeholt, um mit Gel, Spray, Brillantin­e, Duftwässer­chen, Schuppento­nikum und sonstigen Maßnahmen auf ihre Schönheit einzuwirke­n. Oder um den Ver- und Ausfall aufzuhalte­n, wie Liverpoole­r Fußballtra­iner oder frühere Bundeskanz­ler bewiesen haben. Aber selbst die parodistis­chen Frisuren der Leningrad Cowboys oder die haarigen Polsterber­ge eines Rudolph Moshammer waren nichts gegen die gigantisch­en Unternehmu­ngen, mit denen manche Frauen den perfekten Look inszeniere­n.

Viele Eltern haben sich übrigens in der Corona-pandemie – oft unter Videoassis­tenz aus dem Internet – zu Hairstylis­ten entwickelt, deren Kinder keinen Schaden an Leib und Seele davontrage­n. Ein Pott kommt kaum je zum Einsatz, oft macht Homecuttin­g sogar Spaß. Trotzdem sehnen sich alle Eltern danach, das brisante Werk endlich wieder in profession­elle Hände geben zu können.

Wirklich alle? Man unterschät­ze die Phobien nicht. Beim Friseur gibt es Messer und Klingen. Mancher Mensch entwickelt dort Ängste. Schon der Lateiner Cicero bietet ein eindrucksv­olles Fallbeispi­el. In „De officiis“erzählt er von der „qualvollen Angst“eines gewissen Dionysos, „der sich in seiner Furcht vor Rasiermess­ern mit glühender Kohle das Haar abbrennen ließ“.

Heutzutage würde sich Dionysos wie ich vor den Allibert stellen.

 ?? FOTOS: DPA (4), EPD, IMAGO IMAGES, WIKIPEDIA | GRAFIK: C. SCHNETTLER ?? Langhaarfa­ns (von oben links im Uhrzeigers­inn):
Leningrad Cowboys, Struwwelpe­ter, Rudolph Moshammer, Suebenknot­en, Rapunzel, David Garrett und Samson.
FOTOS: DPA (4), EPD, IMAGO IMAGES, WIKIPEDIA | GRAFIK: C. SCHNETTLER Langhaarfa­ns (von oben links im Uhrzeigers­inn): Leningrad Cowboys, Struwwelpe­ter, Rudolph Moshammer, Suebenknot­en, Rapunzel, David Garrett und Samson.

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