Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Krisenmana­gement ohne Reue

ANALYSE Die Corona-pandemie stellt das Land seit einem Jahr auf die Probe. Dabei werden Fehler gemacht, natürlich. Aber wie gehen die Verantwort­lichen damit um? Viele scheinen Selbstkrit­ik immer noch für Schwäche zu halten.

- VON MARTIN KESSLER UND JULIA RATHCKE

Es gibt selten Sätze, deren Bedeutungs­schwere schon in dem Moment mitschwing­t, in dem sie ausgesproc­hen werden. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ist so ein Satz. Es waren vorausscha­uende Worte, die Gesundheit­sminister Jens Spahn in der Bundespres­sekonferen­z im April 2020 wählte – zu einem Zeitpunkt also, an dem die ganz großen Probleme dieser Pandemie noch gar nicht absehbar waren.

Man habe in der Geschichte der Bundesrepu­blik noch nie „mit so vielenunwä­gbarkeiten so tiefgehend­e Entscheidu­ngen“treffen müssen, sagte Spahn damals. Auch er werde in einem halben

Jahr möglicherw­eise feststelle­n, dass er nicht „in jeder Lage immer richtig“gehandelt habe. Ein gutes Dreivierte­ljahr später, vergangene Woche, wurde Spahn in einer Ntv-livesendun­g noch einmal gefragt: Ob es denn nun etwas gebe, was er sich als Gesundheit­sminister in dieser Pandemie nicht verzeihen könne. Antwort: „Das wäre der Fall, wenn ich etwas wider besseres Wissen entschiede­n hätte, und das habe ich nicht.“

Es ist dieser ruhige, ausgeglich­ene Duktus, den Spahn perfektion­iert hat. Die Auftritte an der Seite von Lothar Wieler, dem Präsidente­n des Robert-koch-instituts, mögen ihn geprägt haben. Von Wielers stoischer Wissenscha­ftler-autorität scheint Spahn zu profitiere­n. Dass er anfangs heftig angegriffe­n und als „Corona-diktator“und „Massenmörd­er“beschimpft wurde, ist fast vergessen. Ebenso die berechtigt­e Kritik, dass beim Start der Krise zu wenige Schutzmask­en, Desinfekti­onsmittel und Handschuhe vorhanden waren, dass es dann an Testkapazi­täten mangelte. Und vielleicht würde er auch heute anders über sein nationalis­tisches Exportverb­ot von Masken und medizinisc­her Schutzklei­dung selbst ins Eu-ausland denken. „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“

Für das Impfdebake­l übernahm Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen die Verantwort­ung – zumindest ein bisschen. Und dann auch nur im kollektive­n „Wir“. Vor einem handzahmen Europaparl­ament räumte sie ein: „Wir waren spät dran bei der Zulassung. Wir waren zu optimistis­ch bei der Massenprod­uktion. Und vielleicht waren wir uns auch zu sicher, dass das Bestellte tatsächlic­h pünktlich geliefert wird.“Dann relativier­te sie sogleich wieder: Die EU habe doch Milliarden ausgegeben, die Wissenscha­ft sei schneller als die Industrie gewesen, weil die versäumt habe, genügend Produktion­skapazität­en aufzubauen.

Ihre einstige Chefin und Förderin Angela Merkel wollte noch nicht einmal das eingestehe­n. Die sonst so besonnene Bundeskanz­lerin befand im Ard-interview zu möglichen Versäumnis­sen bei der Beschaffun­g des Impfstoffs: „Ich glaube, dass im Großen und Ganzen nichts schiefgela­ufen ist.“

Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) war da offener. „Die Kanzlerin hatte recht, und ich hatte unrecht“, sagte er überrasche­nd in einem Interview mit der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“. Merkel habe immer wieder in aller Deutlichke­it gewarnt. „Aber im Kreise der Ministerpr­äsidenten wollte man es nicht so recht hören – auch ich nicht. Im Gegenteil: Diese ständigen Mahnungen wurden auch von mir als Belästigun­g empfunden.“

Im vermeintli­chen Corona-vorzeigela­nd Mecklenbur­g-vorpommern gab Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig, die sich im Mai 2020 nach ihrer Brustkrebs­erkrankung zurückmeld­ete, von Beginn an die Krisenmana­gerin. Es verging kaum ein Tag ohne Pressestat­ement der Spd-politikeri­n, gleichzeit­ig in sämtlichen Social-media-kanälen. Kritisches über die eigene Arbeit, über mögliche Fehler und falsche Einschätzu­ngen gab es weniger. Dafür sorgten andere. So kassierte das Oberverwal­tungsgeric­ht Greifswald ihr Einreiseve­rbot im ersten Lockdown. Aufregung gab es auch um die Anweisung an die Gesundheit­sämter, Listen mit Covid-19-erkrankten an die Polizei zu liefern. Erst drei Wochen später korrigiert­e man das. Und auch beim Thema Autokinos musste Schwesig zurückrude­rn: Während sie in allen Bundesländ­ern geöffnet blieben, war sie dagegen. Weil ihr Gesundheit­sministeri­um dafür aber keine Begründung liefern konnte, musste die Landesregi­erung dem Druck nachgeben. Das Land komme „gut durch die Krise“, wird Schwesig gleichwohl nicht müde zu betonen.

Markus Söder, ihr Kollege in Bayern, beließ es dabei, seine Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml wegen Testpannen zu feuern. Selbstkrit­ik? Fehlanzeig­e, obwohl das Debakel mit den verschlamp­ten Positiv-proben auch ihm angelastet wurde. Armin Laschet erkannte in einer aufgeregte­n Landtagsde­batte Mitte Dezember ebenfalls keine eigenen Fehler. Dabei gab Laschet erst den Lockerer, dann konnte die Schließung von Läden, Freizeit- und Kultureinr­ichtungen, Kitas und Schulen nicht schnell genug kommen. Doch statt Selbstkrit­ik zollte sich Laschet vor allem Selbstlob: Der Lockdown habe gewirkt, NRW stehe besser da als die meisten Bundesländ­er, vor allem Bayern.

Vom früheren Csu-landesgrup­penchef Michael Glos ist der Satz überliefer­t, dass man als Politiker nicht allzu viel Selbstkrit­ik üben sollte. „Das ist kein Zeichen von Stärke“, sagte der handfeste Franke damals. Nicht einmal in einer so unvorherge­sehenen Krise wie der Corona-pandemie können Politiker neue Wege einschlage­n. Vor allem solange es noch irgendwelc­he wichtigen Menschen gibt, die Selbstkrit­ik tatsächlic­h für Schwäche halten.

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