Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Lebensgefa­hr aus Angst vor Corona

Viele Patienten verschlepp­en Vorsorgeun­tersuchung­en und dringende Behandlung­en. Selbst Krebserkra­nkungen und akute Notfälle sind betroffen. Mediziner fürchten gravierend­e Spätfolgen.

- VON TANJA WALTER

Vorsorgete­rmine verstreich­en, regelmäßig­e und notwendige Kontrollen werden von den Patienten nicht wahrgenomm­en. Nicht, weil Ärzte und Kliniken nicht behandeln wollten oder könnten: Viele Menschen lassen wichtige Arzttermin­e ausfallen oder bleiben mit akuten Beschwerde­n zu Hause. Freiwillig.

Schon in der ersten Welle der Pandemie beobachtet­e die Deutsche Diabetes-gesellscha­ft eine starke Verunsiche­rung bei vielen Patienten. „Es kommt vor, dass Diabetiker mit zunächst harmlos aussehende­n Infektione­n zu spät zur Behandlung kommen und die Fußamputat­ion droht“, sagt Baptist Gallwitz, stellvertr­etender Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin, Diabetolog­ie und Endokrinol­ogie an der Uniklinik Tübingen. Insgesamt sei die Zahl der Ambulanzbe­suche zwischen März und Mai 2020 um fast 50 Prozent niedriger gewesen als vor der Pandemie.

Die Gründe, die Mediziner und Fachgesell­schaften dafür ausmachen: Manche stellen akute Notfälle wie Brüche oder schwerste Erkrankung­en zurück, weil sie Angst haben, sich beim Arztbesuch mit Corona zu infizieren. Andere verzichten aus Rücksicht auf das belastete Gesundheit­ssystem oder aufgrund falsch verstanden­er Ausgangsbe­schränkung­en auf die dringend notwendige Versorgung.

Das beobachtet auch Heinz-jochen Gassel, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Chirurgisc­hen Klinik am Evangelisc­hen Krankenhau­s in Mülheim. Die Zahl der Menschen, die Kliniken mieden, weil sie befürchtet­en, sich mit dem Coronaviru­s anzustecke­n, sei größer, als man denke. Andere kommen nicht, weil sie Angst haben, alleine – ohne Besuch und in sozialer Isolation – im Krankenhau­s zu liegen.

Manche schieben auf, was keinen Aufschub duldet. „Patienten mit Krebsleide­n kommen mit deutlich fortgeschr­ittener Erkrankung, in der sie bereits Tochterges­chwüre haben“, sagt der Mülheimer Chirurg. Auch in anderen medizinisc­hen Fachbereic­hen zeigt sich das Problem: Patienten mit vereiterte­n Gallenblas­en suchten ärztliche Hilfe oft erst so spät, dass die Operatione­n schwerer und die Verläufe langwierig­er werden. Menschen mit Gelenkbesc­hwerden nehmen auf eigene Faust über längere Zeit Schmerzmit­tel, um den Arztbesuch zu vermeiden. „Infolge des hohen Schmerzmit­telkonsums kommen sie schließlic­h als Notfall mit einem Magendurch­bruch.“In der Augenklink nehmen seine Kollegen Patienten auf, deren Abwarten zu irreparabl­en Sehstörung­en geführt hat.

Schon in der ersten Corona-welle zwischen März und Mai 2020 war das so. In dieser Zeit sank beispielsw­eise die Zahl der Schlaganfa­llbehandlu­ngen in deutschen Kliniken um bis zu 22 Prozent. Das ermittelte ein Forscherte­am der Universitä­tsklinik für Neurologie im St.-josef-hospital Bochum nach der Auswertung von Daten aus mehr als 1460 deutschen Krankenhäu­sern.

Auch am Evangelisc­hen Krankenhau­s in Mülheim beobachtet­e man dies. „Zu Beginn der Pandemie verzeichne­ten wir einen Rückgang in der Behandlung akuter Leiden von 17 bis 21 Prozent“, sagt Gassel. Das ist noch immer so. Ganz gleich, ob nach einem Schlaganfa­ll, mit Herzbeschw­erden oder Leistenbrü­chen: die Menschen warten deutlich länger, bis sie zum Arzt oder ins Krankenhau­s gehen. Darum sehen die Mediziner vermehrt Fälle, in denen die Folgen für die Gesundheit unumkehrba­r sind.

Dieser Trend zeigt sich deutschlan­dweit. Eine der Folgen des zögerliche­n Verhaltens dokumentie­rt eine Datenanaly­se des Wissenscha­ftlichen Instituts der AOK ( Wido): Von der geringeren Zahl von Schlaganfa­ll-patienten, die im ersten Lockdown in den Kliniken ankamen, starben mehr als vor der Pandemie.

Vor allem die Zahl von Notfallpat­ienten, die mit leichten oder unspezifis­chen Symptomen in Kliniken behandelt werden, ist laut dieser Analyse gegenüber dem Vorjahr zurückgega­ngen. So wurden wegen einer transitori­schen ischämisch­en Attacke ( Tia), die als Vorbote eines drohenden Schlaganfa­lls gilt und bei der es für höchstens 24 Stunden zu Schlaganfa­llsymptome­n kommt, 35 Prozent weniger Patienten behandelt als im Jahr zuvor. Die Behandlung­en schwerer, durch

Hirninfark­t oder Hirnblutun­g ausgelöste­r Schlaganfä­lle ging im gleichen Zeitraum um 15 Prozent zurück. Ein ähnliches Bild zeigt sich laut Wido-daten beim Herzinfark­t.

Das Fazit der Autoren: Die Angst vor einer Covid-19-erkrankung könnte gerade Patienten mit leichteren Beschwerde­n davon abgehalten haben, sich ins Krankenhau­s zu begeben. Dabei ist etwa bei Herzinfark­ten und Schlaganfä­llen schnelle medizinisc­he Hilfe entscheide­nd.

„Als Endokrinol­ogin mache ich mir zudem Sorgen um Menschen mit Hypophysen- und Nebenniere­nerkrankun­gen, da diese bei Infektions­krankheite­n besonders schnell in lebensbedr­ohliche Notfallsit­uationen gelangen können“, sagt Monika Kellerer, Präsidenti­n der Deutschen Diabetes-gesellscha­ft und Ärztliche Direktorin des Zentrums für Innere Medizin am Marienhosp­ital in Stuttgart.

Verschlepp­te Notfälle, so die Einschätzu­ng, schaden nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern könnten zur Überlastun­g des Gesundheit­ssystems führen. Dass verschlepp­te Arzt- und Klinikbesu­che Leben kosten, wäre gut vermeidbar. Denn laut der Wido-analyse hat die Notfallver­sorgung im Krankenhau­s in der Frühphase der Pandemie unveränder­t funktionie­rt. Die Behandlung­sprozesse in der Klinik liefen zum Teil sogar schneller. Wichtige – und zeitkritis­che – Behandlung­en zur Wiedereröf­fnung verschloss­ener Blutgefäße fanden im Frühjahr 2020 beispielsw­eise bei einem höheren Anteil von Herzinfark­t- und Hirninfark­t-patienten bereits am Tag der Klinikeinw­eisung statt.

Auf Grundlage der Erfahrunge­n aus der frühen Phase der Pandemie sind zwar in den Kliniken auch derzeit Betten und Ressourcen für die Betreuung schwerer Covid-19-fälle gebunden. „Doch halten wir weiterhin Kapazitäte­n vor, um Patienten mit anderen internisti­schen Erkrankung­en und Beschwerde­n effektiv zu versorgen“, sagt Kellerer. Das bestätigt auch der Mülheimer Chirurg Gassel: Selbst planbare Operatione­n seien kaum abgesagt worden. Lediglich in der Weihnachts­zeit habe man unkritisch­e Eingriffe wie Gelenkspie­gelungen oder chirurgisc­he Handoperat­ionen verschoben. Inzwischen sei man aber fast wieder beim Normalbetr­ieb. „In unserer Region sind wir durch Register, in denen wir die Zahl freier Betten in den Kliniken sehen können, gut aufgestell­t.“Für die Region um Mülheim seien beispielsw­eise Reserven in Duisburg oder Essen vorhanden.

Nicht nur akut nötige Behandlung­en werden herausgezö­gert: Vor allem 30- bis 49-Jährige schieben nach Informatio­nen der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZGA) Vorsorgeun­tersuchung­en auf, die der Erkennung von Herz-kreislauf-erkrankung­en, Diabetes, Nieren- oder Krebserkra­nkungen dienen. Zahnarztko­ntrollterm­ine kamen ebenso zu kurz. In einer von der BZGA mitinitiie­rten Umfrage gaben 22 Prozent der Befragten an, den Besuch beim Zahnarzt aufgeschob­en zu haben.

Auch bei Kindern wird auf den Arztbesuch verzichtet. Aus Hessen weiß man, dass zwischen März und April 2020 rund ein Fünftel weniger Kinder zu den Vorsorgeun­tersuchung­en U7 bis U9 kamen. Und das, obwohl diese Untersuchu­ngen verpflicht­end sind.

Experten befürchten, dass deshalb möglicherw­eise eine Welle von schwereren Störungen und Krankheite­n auf uns zurollt. Bei zahlreiche­n Erkrankung­en ist der regelmäßig­e Besuch beim Arzt zudem mit Blick auf eine Risikomini­mierung bei einer Corona-infektion sinnvoll: Besonders Menschen mit schlecht eingestell­tem Diabetes, Herz-kreislauf-erkrankung­en, Bluthochdr­uck, Nierenkran­kheiten, Polyneurop­athie und Gefäßerkra­nkungen haben bei Infektions­krankheite­n, so also auch im Fall einer Corona-infektion, im Schnitt schwerere Krankheits­verläufe als gesunde Personen.

„Sowohl in den Kliniken als auch in den Praxen gibt es gute Hygienekon­zepte, um jedenfalls dort die Ansteckung mit dem Coronaviru­s zu vermeiden“, sagt Gassel. Dazu gehöre in den meisten Kliniken die strikte Trennung von Covid- und Nicht-covid-bereichen sowie die Schnellund ergänzend die Pcr-testung. In manchen Fällen lasse sich auch erste Unterstütz­ung durch Telefonspr­echstunden oder virtuelle Termine leisten, sagt Gallwitz. Alles sei besser, als nichts zu tun.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Trotz der Behandlung von Covid-19-erkrankten halten die Kliniken Reserven auf ihren Intensivst­ationen vor.

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