Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
WISSENSDRANG Öffentliches Glück und seine Feinde
China hat die Pandemie brachial bekämpft. Ein Modell ist es aber nicht.
Neuerdings heißt es, die Volksrepublik China habe sich in der Pandemie als das „erfolgreichere System“erwiesen. Zur Begründung wird auf Wirtschaftswachstum, Technologie und Verkehrsinfrastruktur, Bekämpfung der Armut, die architektonische „Strahlkraft von Stadtkernen“und anderes verwiesen. Sie haben sich nicht verlesen: Es geht um das Land, dessen Bürger in ihren Freiheiten immer mehr eingeschränkt werden. Wo Kritiker der Regierung verhaftet werden. Wo Ärzte nicht vor Gefahren warnen dürfen, die am Image der perfekten Partei kratzen könnten, und der Ausbruch der Pandemie wochenlang vertuscht wurde. Wo Uiguren, die keine Straftat begangen haben, präventiv in Konzentrationslagern misshandelt werden.
Kann man die Qualität eines politischen Systems allein an dem messen, was das Bruttosozialprodukt steigert und das private Leben der politisch zur Akklamation oder Stummheit Verdammten behaglicher macht? Wer dies tut, verwechselt Politik mit der Herstellung von attraktiven Produkten und der Kontrolle über Mensch und Natur.
Auch hierzulande gibt es Politiker, denen die bürgerlichen Freiheiten nur als lästige Hindernisse der Kontrolle erscheinen. Karl Lauterbach experimentierte unlängst in der „Welt“mit der Idee, Einschränkungen der persönlichen Freiheit wie während der Corona-krise könnten doch vielleicht auch zur Bekämpfung der drohenden
Erderwärmung ganz nützlich sein. Die Qualität von Politik liegt jedoch weder in einer illusionären Kontrolle über das Klima oder unberechenbare Epidemien noch in der Kontrolle der Bürger. Sie zeigt sich in dem, was Hannah Arendt das „öffentliche Glück“genannt hat: nicht auf sein enges Privatleben reduziert zu sein, angstfrei am politischen Leben teilnehmen zu können, auf Demonstrationen, in Bürgerinitiativen, wie auch immer. Freiheit ist ein höchstes Gut – nicht nur, wenn sie das Bruttosozialprodukt steigert.
Unsere Autorin ist Philosophie-professorin an der Ruhr-universität Bochum. Sie wechselt sich hier wöchentlich mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.